Samstag, 24. Dezember 2011

Stille Nacht, heilige Nacht


Ich sitze in meinem neuen schwarzen Kleid auf dem Dach. Über mir ist der schönste Sternenhimmel, den ich je sehen durfte. Mir ist kalt. Ich könnte jetzt aufstehen, runter gehen und mir eine Jacke holen.  Aber ich will frieren, nein, ich muss jetzt frieren.
Tränen laufen über meine Wangen. Ich müsste jetzt nicht weinen, ich könnte es aufhalten, mir geht es nicht schlecht, ich brauche kein Ventil, fühle mich nicht einmal einsam. Doch ich will jetzt gerade weinen. Vielleicht aus Entsetzen darüber, dass es mir gut geht.

Ich höre meine Wiedergabeliste mit dem Titel „Kummer“ und greife immer wieder in die Dose mit den Weihnachtsplätzchen. Ameisen  krabbeln über die Krümel. Nein, ich beseitige sie nicht, einzig und allein deshalb, weil sie Teil der unglaublichen Absurdität dieses Momentes sind.

Es ist ganz ruhig in mir. Ich singe drei Strophen von „Stille Nacht“, während ich höre, dass eines der Kinder unten bitterlich weint. Ich frage mich, ob mir diese Nacht heute heilig ist und auch wenn ich verzweifelte nach Argumenten suche, die diese Frage bejahen, so bin ich mir nicht sicher, ob sie ausreichen, um mich vollends davon zu überzeugen.

Ich rechne viereinhalb Stunden zurück, schließe die Augen und sehe mich, wie ich vorm Spiegel stehe, mich schminke, die Haare kämme, Mütze, Schal und Handschuhe anziehe, mein Horn nehme und zur Kirche gehe.

Ein Flugzeug. Ob ich gerne darin säße? Nein.

Ich finde einen Zettel in meiner Tasche. „Happy Christmas Priya-Sister! I love you.“

Und plötzlich singt Jack White mit seiner unglaublich unnahbaren Art „I´m lonely, but I ain’t that lonely now“. Wie automatisch stelle ich den Laptop weg und lege mich hin. Dieser Augenblick ist viel zu wertvoll, um ihn mit dem Schreiben eines völlig gehaltlosen Blogeintrags zu zerstören.


Ich sehe eine Sternschnuppe und jetzt weiß ich: Diese Nacht ist heilig.





Frohe Weihnachten!

Donnerstag, 22. Dezember 2011

Aus dem Leben eines A-Promis*


„AAAAAAAAAHHHHHHHHHHHHHHH!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!“

(dieser Ausruf ist mindestens 2 Oktaven höher, als du ihn dir gerade vorgestellt hast)

„HIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHI“

(dieses Kichern wird von mindestens 10 Frauen mehr ausgestoßen, als du gerade gedacht hast)

„HAHAHA!“

(dieses Lachen….nein, Stopp, das sind jetzt lediglich Alma und ich)


Ein bisschen peinlich berührt, irgendwie auch sehr geschmeichelt, laufen wir unseren (mittlerweile täglichen!) Gang zum Kiosk in Bogaram. Wer ist eigentlich dieser Justin Bieber? Wer kam eigentlich auf die Idee, man würde von zu viel Ruhm irgendwann abheben? Wer glaubt eigentlich an das Gerücht, man müsse irgendwas Besonderes leisten um berühmt zu werden? Wer hat eigentlich bestimmt, dass der Walk of Fame in Hollywood und nicht in Bogaram ist?

Die Antwort ist bei allen Fragen dieselbe: ein Idiot. Oder zumindest ein Weltfremder, den es noch nie in das allseits berüchtigte Bogaram verschlagen hat. Ein Idealist, der einfach noch nie dabei war, als Alma und ich das Heim verlassen haben und wir jubelnd, schreiend und quietschend empfangen wurden.

Wäre die Straße zum Kiosk nicht nur von Müll, Tierkadavern und Schlaglöchern übersäht, sondern stattdessen mit Häusern bebaut, in denen Menschen wohnen, die eventuell noch Fotoapparate hätten, so käme unser täglicher Spaziergang der Hochzeits-Kutsch-Fahrt von Kate und William gleich. Frauen stehen auf der Ladefläche eines an uns vorbeifahrenden Autos und winken schüchtern. Sobald wir ihnen eines unserer Hollywood-Zahnpasta-Lächeln schenken (im Vergleich zu indischen Zähnen hat JEDER dieses Lächeln!), und dabei gegebenenfalls noch zuwinken, sodass selbst die Queen neidisch wäre (als würde man sanft ein Honigglas aufschrauben, das auf dem Kopf steht…), flippt die Damenwelt nur so aus (die Männer natürlich auch, aber die signalisieren es eben anders…irgendwie…NOCH primitiver…)!

Und diese Reaktionen erfahren wir überall, wo wir auftauchen. Ich denke zurück an den Tag als wir im Zoo waren wo wir für viele Besucher die größte Attraktion (kommt in diesem Fall ganz sicher von „attraktiv“!) darstellten und somit Safari und Zugfahrt in den Schatten stellten. An einem einzigen Tag wurden gefühlte 200 Fotos von uns geschossen, in denen wir abwechselnd mit Kindern, Vater, Mutter oder allen zusammen posieren.

Irgendwann, als wir für mehrere Familien hintereinander Fotos fürs Familienalbum schossen, sagte Alma: „Egal, was jetzt passiert, wir rennen einfach los!“
Und das taten wir dann auch und ignorierten die „Please, madame!“-Rufe.

Die gleiche Szene, immer wieder. Und es ist immer wieder ein Spagat zwischen Scham und Ehre. Und während ich so weitergehe auf dem Weg zum Kiosk und darüber nachdenke, dass ich nicht sonderlich gelenkig bin und daher eigentlich überhaupt keinen Spagat machen kann und mich frage, ob das dann bedeutet, dass ich mich in solchen Spagat-Geschichten für eine Seite entscheiden muss oder ob meine Sportlichkeit doch in keinem Zusammenhang mit der Frage steht, welches Gefühl bei mir überwiegt und wer weiß, vielleicht kann ich das ja auch gar nicht steuern und lenken, vielleicht werde ICH davon gelenkt, meine ganze Gedankenwelt, quasi völlig manipuliert von meinen Gefühlen und meiner Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, aber jetzt muss ich echt aufpassen und mich zusammenreißen, damit ich mich nicht wieder völlig in gehaltlosen Gedankenfetzen verfranse, sonst……..und als ich gerade beschließe Spagat zu lernen, merke ich, dass ich auf weichem Untergrund stehe.

„HÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄ????“

(dieser Begriff des Unverständnisses ist viel entsetzter, als du gerade gedacht hast)

„SCHEIßE!!!!!!!!!!!!!!!!!!!“

(dieser Ausdruck bedeutet zwar nicht, dass ich in Kot stehe, ist jedoch trotzdem mindestens so entsetzt wie der zuvor genannte!)

Schnell drehe ich mich zu Alma um, in der Hoffnung, dass sie mir nicht gefolgt war – vergeblich. Sie blickt ebenfalls fragend auf den Boden.

„Scheiße, Alma, wir stehen gerade im frischen Beton.“

Zur vollen Blamage hätte jetzt nur noch ein Spagat gefehlt – wie gut, dass ich den noch nicht geübt hab!

Und da ich schon immer für meine sachliche präzise Situations-Analyse bekannt war, da ich ein logisch strukturierter Mensch bin, dessen Hirn effizienzgeleitet sofort den eigenen Fehler diagnostizieren kann und dann sofort nach Lösungen sucht, den Schaden möglichst gering zu halten, gehe ich nicht die zwei Schritte weiter, um dann wieder auf festem Boden zu stehen, sondern stattdessen die fünf Schritte zurück durch die klebrige Pampe.

Unter den interessierten Blicken etlicher Menschen legen wir unseren „Hä? War irgendwas?“-Blick auf (der auf einer Stufe mit dem Zahnpasta-Lächeln und dem Queen-Winken steht) – natürlich absolut glaubwürdig, nicht nur, weil es mal locker 20 Zeugen gibt, sondern zudem noch unsere Fußspuren in den Boden eingestanzt sind und wir noch frischen Beton unter den Sohlen kleben haben.

Wie war das doch gleich? In Bogaram gibt’s keinen Walk of Fame? Pah, von wegen!
Dass Justin Bieber noch nicht in Bogaram war, ist jetzt auch kein Wunder mehr (schließlich würde der vor Neid erblassen!).
Dass man nichts Besonderes leisten muss, um berühmt zu werden, hätten wir jetzt somit auch widerlegt (das soll uns erst mal jemand nachmachen!).

Nur das mit dem Abheben bei zu viel Ruhm kann ich nicht bestätigen:
Schließlich kann ich in meiner Position mit gutem Gewissen und voller Berechtigung erwarten, standesgemäß vom Pöbel empfangen zu werden!


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*  Parallelen zu „Aus dem Leben eines Taugenichts“ sind hier rein zufällig

Montag, 12. Dezember 2011

Von hinten bis vorne


Heute, 12:23 Uhr:


Durga Bhavani verzieht das Gesicht. Angewidert. Die Mundwinkel hängen dabei fast tiefer als das Kinn lang ist. Sie stöhnt genervt auf, greift dann zielsicher auf das runde Stück Metall, nimmt eine bunte, zusammenklebende Masse in die Hand und schiebt diese rüber zu Ashwini, die sich gerade angeregt mit Lalitha unterhält und dabei wild gestikuliert. Um ein Haar schlägt sie Durga Bhavani das Stück aus der Hand als sie nach oben zeigt. Das macht Ashwini stutzig. Sie blickt nach unten und  sofort macht sich Entsetzen in ihr breit. Alles an ihrem Körper wehrt sich dagegen, dieses Geschenk anzunehmen. Auch Lalitha hat die Lage erkannt und will ihrer besten Freundin in diesem schwierigen Moment beistehen. Von tiefer innerer Verbundenheit geleitet wagt sie sich, das Stück nun auch in die Hand zu nehmen, um Ashwini von ihrer Qual zu erlösen. Innerhalb von Sekundenbruchteilen wird das Stück nun zu Laxmi befördert. Verdammt was nun? Alle Tricks, das harte Los irgendwie abzuwehren, sei es durch schnelle Reaktionen mit den Händen oder die Solidarität der besten Freundin, scheinen aussichtslos.

Oder etwa nicht?

 Tränen steigen in Laxmis Augen. Das Mädchen mit der höchsten Stimme fängt an, herzzerreißend zu weinen. Das ist kein Weinen, das ertönt, wenn ein Kind hingefallen ist und sich verletzt hat, nicht so als hätte man ihm sein Lieblings-Spielzeug weggenommen. Nein, das Weinen, das aus Laxmis Kehle erklingt, durchfährt Mark und Bein, denn es ist ein Weinen, als hätte ihre Mutter vergessen, sie aus dem Kindergarten abzuholen. „Chinnar-Akka!!!“, brüllt sie los. Diese stürmt herbei um ihrer kleinen Schwester zu helfen. Als hätte sie bereits geahnt, was sie erwartet, springt Anusha hektisch auf, klettert auf die Arbeitsplatte und hält ihre Metallschüssel so hoch wie sie nur kann. Doch es hilft nichts. Chinnari hält das bunte Etwas längst in ihren Händen, erklimmt ebenfalls die Arbeitsplatte und schmeißt es mit aller Wucht in Anushas Schüssel. In diesem Moment betritt Sana die Küche und Anusha erkennt, dass dies ihre Gunst der Stunde ist, denn jene hatte schon längst alles zurechtgestellt, war aber noch etwa 5 Meter davon entfernt. Jetzt oder nie! Sie greift nach dem klebrigen Stück und schiebt es Sana unter, die von dieser Aktion nichts mitbekommen zu haben schien. Aufatmen auf allen Seiten.

„Chiiiiii!!!!“, quietscht Sana, als sie erblickt, was vor ihr liegt.
Ein langer Monolog beginnt, indem immer wieder Ausdrücke des Ekels und das Wort „sister“ vorkommen. Ein Lächeln huscht mir über die Lippen. Ich muss kichern. Jyoshna sieht schockiert zu mir auf und realisiert, dass ich seit 2 Minuten unbemerkt im Türrahmen stand und die ganze Szene beobachtet hatte. „Siiiiiiiister!!!“
Schimpfen, Schläge auf den Hinterkopf der Mädchen und aggressives Gestikulieren sind die Folgen meiner Erscheinung.

„So nice, sister!“, sagen schließlich alle im Chor und grinsen mich dabei an.



Gestern, 20:26 Uhr:


Mit noch leicht nassen Haaren und sehr trockenem Humor sitze ich auf dem Boden, blicke von einem Mädchen zum anderen und muss lachen. Der Anblick der sich mir bietet sagt alles, obwohl um mich herum völlige Stille herrscht. Zwischen den Blickwechseln der Mädchen, stehen keine Sätze sondern ganze Romane, die solche Überschriften wie „Als ich das Wasser trinken musste, indem meine Großmutter ihr Gebiss gewaschen hat“, „Wie ich die Haltegriffe der Berliner U-Bahn ableckte“, oder „Nacktbaden im New Yorker Abwasser“, tragen könnten. Unbeeindruckt führe ich meine rechte Hand zum Mund. Wäre das schweigsame Spektakel um mich herum nur halb so interessant, ich würde vor Genuss die Augen schließen. Ich blicke rüber zu Alma und wir beschließen, aufzustehen und zu gehen, die Situation dem Schicksal zu überlassen, oder einfach dem menschlichen Instinkt. Wir gehen durch die Tür nach draußen. „So nice, sister!“, ertönt es gleich aus mehreren Hälsen. Ich lache.



Gestern, 18: 17 Uhr:


Frisch geduscht und voller Elan greife ich nach dem Messer und beginne die Tat, die mich noch etwa zwei Stunden lang beschäftigen sollte. Viele Gedanken hatten wir uns gemacht, zumindest was Menge und Art betraf. Nun bin ich fest davon überzeugt, dass es ein Erfolg wird. Alles andere würde die Zerstörung meines Weltbildes bedeuten, oder zumindest einem starken Rütteln daran gleichkommen. Die Musik im Hintergrund macht die Arbeit erträglich. Ständig versuchen Mädchen, zu erspähen, was sie erwartet, doch die Türen sind verschlossen und der Schutzwall errichtet.
„Und??“, frage ich Alma erwartungsvoll. Sie nickt zufrieden und entgegnet „Also ich finds gut!“
Es klopft an der Tür. Ich öffne sie und erblicke Nagomanie, die höflich um Einlass bittet, um etwas zu trinken. Sie kommt rein, zeigt auf den Boden und sagt: „So nice, sister!“
Diese Bestätigung hätte ich nicht mehr gebraucht, denke ich mir.



Donnerstag, 10:53 Uhr:


„Also ich hätte mir 10 kg irgendwie schwerer vorgestellt!“, sagt Alma, die den Sack auf dem Rücken trägt. Ich laufe neben ihr, halte zwei prall gefüllte Taschen in den Händen und stöhne auf. Es ist zu warm und zu beschwerlich, diese elende Schlepperei.



Vor etwa 2 Wochen:


„Also machen wir jetzt Nudeln mit Tomatensoße??“, frage ich und bekomme eine bestätigende Antwort.



Heute, 14: 49:


Ja, so war das gestern. Wir wollten den Mädchen einen Einblick in die deutsche Kultur bieten und wo lernt man eine Kultur besser und schneller kennen als beim Essen? Also beschlossen wir, aus den geringen Möglichkeiten, hier was typisch Deutsches zu kochen, das Beste zu machen. Wir besorgten 10 Kilo Nudeln und 5 Kilo Tomaten, Zwiebeln und Knoblauch. Und, da uns die Tomatensoße zu teuer war, noch 4 Liter Ketchup. Wir zauberten ein wirklich leckeres Gericht, auch wenn das kaum vorstellbar ist, angesichts der Alternative für die Tomatensoße (allerdings haben wir dafür immerhin bunte Nudeln gekauft!).
Es war eine Katastrophe. Niemandem hat unser Essen geschmeckt (von Alma und mir selbst mal abgesehen)! Aus „Wann gibt’s endlich Essen, ich hab totalen Hunger?!“ wurde „Nee, lieber nicht so viel, ich bin heute nicht so hungrig!“, und aus meiner Ankündigung „Wir machen echtes deutsches Essen für euch!“ wurde ein rechtfertigendes „Naja, das ist eigentlich kein deutsches, sondern italienisches Essen…“.

Heute sollten dann die Reste gegessen werden, was unter elender Qual, unter Tränen und Schlägen dann auch widerwillig geschah.

Auch wenn die Geschichte keine Moral hat und ich nicht weiß, ob und was wir falsch gemacht haben, so bleibt mir doch ein Satz immer im Ohr: „So nice, sister!“

„Ja, ich weiß!“, denke ich mir jetzt und lächle zufrieden.



Mittwoch, 30. November 2011

Meine Mädchen, meine Kaste, mein Gewissen



KULTURSCHOCK! Das ist das erste was meinem Hirn einfällt, als die Türen unseres vollgestopften Autos endlich aufplatzen und wir hinaus können. Und dieser Gedanke, dieses Stichwort, das sich in jede Zelle eingenistet hatte, ist nicht nur einfach so da, wie eine Botschaft auf einem weißen Zettel der da irgendwo im Chaos meines Gehirns rumliegt, sondern steht auf großen bunten Luftballons geschrieben, die von Konfettimassen abgeschossen werden während dazu David Hasselhoff im Superman-Anzug auf einer großen rosa Wolke „I´ve been looking for freedom“ singt und auf dem Kopf einen Bauarbeiterhelm mit roten Alarmglocken trägt, die ununterbrochen dieses nervtötende Geräusch ausstoßen. Sprich: Es ist nicht schön, aber ich kann es auch nicht ignorieren.

Der Anblick, der sich meinen Augen bietet, nein, aufdrängt, wird euch möglicherweise lächerlich erscheinen, aber mich zieht er mit aller Gewalt in den Kulturschock-Topf, wie einen Hummer, der lebend gekocht wird, und was dabei rauskommt ist eine undefinierbare Grütze aus „ich-weiß-ich-bin-eine-typische-Westlerin-möchte-mich-aber-auf-die-indische-Kultur-einlassen-merke-jedoch-gerade-dass-ich-genau-von-den-Menschen-angewidert-bin-zu-denen-ich-mich-vor-kurzer-Zeit –noch-selbst-gezählt-hätte-die-ich-aber-seit-ich-hier-lebe-zwangsläufig-völlig-vermieden-habe-und-jetzt-erst-merke-wie-viele-Welten-es-in-einer-einzigen-doch-gibt-was-dazu-führt-dass-ich-völlig-überfordert-mit-der-Gesamtsituation-bin“ und (damit verbundene) unendliche Scham.

Es ist Sonntag und wir fahren auf eine Veranstaltung eines Tanzstudios. Etwa 20 Gruppen verschiedener Altersgruppen stellen dort einmal im Jahr ihre einstudierten Tänze vor, die sie von professionellen Tänzern gezeigt bekommen. Auch einigen Mädchen aus dem Heim wurde diese Ehre zum ersten Mal zuteil.

Ich bin sehr froh darüber, euch bereits einen Einblick in die kleine beschauliche Heim-Welt geboten zu haben, die nur aus Frauen besteht, da er die Voraussetzung dafür ist, zu verstehen, warum ich so schockiert war. Tradition und Kultur wird hier extrem groß geschrieben (Alma hat mir jetzt von einem unserer Mädchen erzählt, dass nicht von der Toilette kommen wollte, weil sie ihren Schal draußen vergessen hatte und noch ein männlicher Mitarbeiter von unserer Organisation im Gebäude war. Sie konnte unmöglich ohne diesen Schal, der ihren ohnehin vor Klamotten kaum sichtbaren Hals verdeckt, vor einen Mann treten.).

Wie geht man jetzt damit um, wenn man, vorfreudig auf den bevorstehenden  Tanzauftritt, aus dem Auto steigt, dass uns fast zwei Stunden nach Hyderabad gefahren hat, und das erste was man sieht sind 12jährige Mädchen in roten Glitzer-Hotpants?

Ich tue nichts, schweige erschrocken vor mich hin und lutsche ein Karamellbonbon.
Stumm gehen wir in das riesige, extrem prunkvolle Gebäude, das direkt neben einem „Kentucky Fried Chicken“ aus der indischen Erde hervorragt. An den Toren sind Wächter in Uniformen, der Rasen ist gleichmäßig geschnitten, die große Treppe glänzt in der Sonne. Doch all das ist nichts im Vergleich zu dem Anblick, den die Menschen dort abgeben. Sie sind genauso weiß wie ich, haben alle schicke, westliche Klamotten an, die Kinder halten sich schüchtern an den Händen eines Elternteils fest, tragen  mindestens jeweils ein Glitzer-Kleidungstück , sodass sie einer Disco-Kugel in nichts nachstehen. Sie essen Chips oder Schokolade von Marken, die ich alle kenne, trinken Cola, fotografieren sich gegenseitig mit dem Smartphone oder einer Kamera. Und zwischen all diesen Menschen sitzen wir, die Mädchen aus dem Heim und zwei völlig verwirrte Freiwillige. Wie immer hatten sich die Mädchen so schön gemacht, wie sie nur konnten, hatten aufwendige Frisuren, all ihren Schmuck und ihre schönsten, frisch gewaschenen Klamotten an – doch es scheint nicht zu reichen. Sie können nicht mit Hotpants und pinken Pailletten-Westen mithalten. Die Stimmung ist auf dem Tiefpunkt.

 Sie tun mir so leid, sitzen da, der bunte Haufen wunderschöner Mädchen, der sich so schäbig fühlt zwischen all den kleinen verzogenen Bonzen-Kindern. Noch nie zuvor habe ich in Indien so wenig Aufmerksamkeit bekommen, wie an diesem Ort. Westliche Frauen scheinen keine große Besonderheit zu sein bei den Mitgliedern der oberen Kaste, die zu allem Überfluss teilweise besser Englisch sprechen als ich (ob das schwierig ist oder nicht lass ich jetzt mal so im Raum stehen).

Es gibt in diesem Moment nichts was ich tun kann und das Wissen darüber kränkt mich ungemein.

Mir wird klar, in welcher schönen, allerdings völlig utopischen Scheinwelt die Mädchen hier im Heim leben. Denn genauso wenig, wie es eine Welt ohne Männer gibt, sind alle „Indian boys dirty“.

Wenn sie ihre romantischen Filme gucken und anschließend ganz verträumt die ausgeschnittenen Bilder ihrer „heroes“ aus der Zeitung bestaunen, wenn sie meine leere Duschgelflasche aus dem Müll ziehen und diese aufbewahren wie einen Schatz, weil sie so schön riecht, wenn sie anfangen, wie blöd zu kichern, wenn ihr Lehrer vorbeikommt um sie Vokabeln abzufragen, wenn sie ganz stolz darauf sind, neuen Schmuck zu tragen, wie sie sich freuen, wenn es in der Schule ein gekochtes Ei zum Mittag gibt, wie sie schnell umschalten, wenn eine Liebesszene im Fernsehen zu sehen ist – sie sind einfach so unglaublich unschuldig. Die Welt, aus der auch ich komme, kennen sie nur aus dem Fernsehen. Sie ahnen nicht, und das hab ich zu meiner Schande übrigens noch viel weniger geahnt, dass die Welt hinter der Mattscheibe nur zwei Stunden von ihnen entfernt Realität wird.

 Es ist ein beklemmendes Gefühl. Und gleichzeitig spüre ich, wie sehr ich mich innerlich dagegen weigere, mich zu den reichen, weißen, West-Indern zu zählen. Stattdessen empfinde ich  so viel Loyalität und Verbundenheit mit den Heim-Mädchen wie nie zuvor.

Und dann denke ich an die Vorgeschichte einiger Mädchen, die in der Regel missbraucht wurden, oft sexuell.

Und im nächsten Moment, als wir unsere Sitze in der letzten Reihe der Halle mit riesiger, beleuchteter Bühne zugewiesen bekommen und der erste Tanz beginnt, sehen meine Augen, wie Mädchen ihren 12jährigen roten Glitzerpo am Schoß eines Gleichaltrigen reiben während im Hintergrund Pitbulls „I know you want me“ läuft. Hätte auch ich an diesem Tag einen Schal getragen, ich hätte ihn mir am liebsten über die Augen gezogen.
Die Stimmung wird immer schlechter, die Mädchen sagen, dass sie es hier nicht mögen, die Mienen verfinstern sich, ich denke zurück an die Hinfahrt auf der durchgängig gesungen und gelacht wurde. Ich habe Angst um sie, was völlig bescheuert klingen mag. Diese große beeindruckende Bühne, die Lichter, all die Fremden…

Je mehr Tänze wir sehen, desto mehr schämen sie sich, so habe ich den Eindruck. Dann werden sie von einer Tanzlehrerin abgeholt. Verdammt. Genau jetzt muss ich aufs Klo! Ach, das schaff ich noch, denke ich und düse los. Stolz darüber, wie schnell ich die Toiletten gefunden hatte, komme ich wieder aus der Tür heraus als ich plötzlich DAS Lied höre. Ich stürme in den unteren Abschnitt der Sitzplätze, wo die ganzen Eltern stehen, bahne mir achtlos einen Weg durch die Menschenmassen, drängle mich an der arroganten Elite Hyderabads vorbei bis ich sie endlich sehe. Da stehen sie, der bunte Haufen wunderschöner Mädchen. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Ich sehe sie tanzen und sehe, wie sie in ihren traditionellen Kleidern, ihren Flechtzöpfen und ihren Stickern auf der Stirn ganz ohne Arschgewackel dem gesamten Saal den symbolischen Mittelfinger zeigen. Auch wenn ich mir dem Verlust meiner Objektivität völlig bewusst bin: Sie sind die Besten!
Ich spüre, wie mir Tränen die Wangen runterlaufen und zum ersten Mal habe ich eine Vorstellung davon, wie es für eine Mutter sein muss, wenn sie ihr eigenes Kind in einem solchen Moment sieht. Ich bin so unendlich stolz auf sie! Unter dem lauten Applaus tippt mich ein junger Mann an und fragt ob alles ok ist.

„Yes, I´m fine! It´s just…they are MY girls!”

Uff, dieser Satz sitzt. Mitten in meinem Herzen. Und mal ehrlich: Da ist Patrick Swayzes „Mein Baby gehört zu mir, ist das klar?!“ am Ende von Dirty Dancing ja wohl ein Scheißdreck gegen!
Als meine Mädchen dann zurück zu ihren Plätzen kommen, ist die Stimmung eine völlig andere und nicht mehr zu vergleichen mit der vorherigen: Sie strahlen, toben, tanzen, sind erleichtert, befreit und überglücklich! Es ist traumhaft!

Auf dem Rückweg dann schlafen alle Mädchen erschöpft und zufrieden ein (die können echt bei JEDER Bedingung schlafen!). Nur Durga, ein sechzehnjähriges Mädchen behält die Augen offen und blickt aus dem Fenster. Sie kommt aus Hyderabad und ihre Familie wohnt ganz in der Nähe des riesigen Gebäudes in dem wir waren, was mitten auf der westlichen Einkaufsmeile der Stadt steht. Sie sieht in die großen Läden von Levi´s, Pizza Hut und adidas hinein. Auch unzählige Juweliere haben dort ein großes Geschäft. Ich blicke mich um in der unterbewussten Gewissheit, dass ich in jeden dieser Läden reinspazieren kann, vorbei an der Security, mich ganz normal umsehen kann ohne dabei schief angesehen zu werden. Und das wohl allein deshalb, weil ich weiß bin. Durga hingegen wird wohl nie einen dieser Läden von innen sehen, die von außen mit langen Lichterketten verziert sind und so anziehend und verlockend sind. Wieder habe ich ein komisches Gefühl.  Doch wie fast jeder Mensch kann ich diese komischen Gedanken gut ignorieren, mein Gewissen abstellen.

Und so kam es, dass ich am nächsten Tag in eben dieser Einkaufsmeile in sämtliche Läden reinspaziert bin. Doch das ist eine andere Geschichte…

Samstag, 26. November 2011

Warum ich aus Solidarität gegenüber den Männern meine Lieblingsband nicht mehr hören kann


Ich lebe nun seit zweieinhalb Monaten nur unter Frauen und Mädchen, unter Feministinnen und Müttern, ständig umgeben von weiblichen Wesen (selbst unser Torwächter ist eine Frau)! Im Bus oder in der Rikscha sind die Bereiche für Männer und Frauen weitestgehend getrennt und Männer kommen hier quasi nie zu Besuch: Die Trinkwasser-Lieferanten bleiben entweder vor dem Tor stehen oder tragen die Kanister innerhalb von 2 Minuten auf direktem Weg in die Küche, mit dem „Brother“ (= ein junger Lehrer der Zehntklässlerinnen) kann ich mich auch nicht unterhalten, weil ich damit die volle Eifersucht von etwa 8 postpubertären Mädchen auf mich ziehen würde und dann fällt mir auch schon kein männliches Wesen mehr ein, mit dem ich mich unterhalten könnte (mimimimimi).

Kurzum: ich lebe in einer Welt, die ausschließlich aus X-Chromosomen besteht! Das einzige mickrige Y-Chromosom (das ja laut meines Wissens auch nur ein verstümmeltes X-Chromosom ist – oh Mann, was muss ich mich zusammenreißen, das nicht weiter zu kommentieren! ...) steuert Charly bei, ein junger, schwarzer, vor allem aber nicht sonderlich intelligenter (um nicht zu sagen gestörter) Hund, der eigentlich nur für kurze Zeit in Pflege bleiben sollte aber irgendwie nicht mehr abgeholt wird (vielleicht sollten wir ihn in die Ukraine verschicken).

Der Kontakt zu Männern beschränkt sich auf Glotzen und Gaffen, die Kommunikation auf Halbsätze wie „Oh, very nice!“ oder „Where you going?“ und natürlich auf das ständig zu hörende Geräusch der Handykameras (hier ein Beispiel eines typisch männlichen Verhaltensmusters: Der Mann gegenüber versucht so unauffällig wie nur irgendwie möglich ein Foto von Alma und mir zu schießen, was ihm am Ende sogar tatsächlich ohne unsere Kenntnisnahme gelungen wäre, hätte er nicht vergessen den Ton seines Handys auszuschalten. Als das überdimensional laute „KLICK!“ ertönte war natürlich klar, was sich in den letzten Minuten abgespielt hatte und der arme (meine Definition von weiblicher Ironie besteht darin, dass frau versucht, diese möglichst unauffällig einzusetzen, damit ein Großteil der Männer sie überliest) Mann schaute wie Carsten Spengemann, nachdem er den Diamantring (natürlich nicht!!) gestohlen hat (eigentlich wollte ich als Vergleich die lustigen „Bunga-Bunga-Partys“ mit der lieben Ruby heranziehen, aber da man nicht über Tote lästert, sollte man das auch nicht über pensionierte Politiker tun).)
(Für den Fall (und der trat vor einigen Tagen ein), dass sich doch mal Männer in unser trautes Mädchenheim verirren (es waren „visitors“ von einer großen Bank, die hier Spiele mit den Kindern durchführten (ich musste kurz überlegen, was sie eigentlich hier gemacht haben, weil mir zunächst nur eingefallen ist, dass sie ganz viele Kekse mitgebracht haben…) und dann Preise verteilten), stellt die schwierige Kommunikation mit den Mädchen keinerlei Hindernisse mehr dar. Die Mädchen ziehen ihre aller schönsten Kleider und Panjabis(?) an, die sie sonst nur an ihrem Geburtstag tragen, haben in der Regel aufwendige Frisuren inklusive Blumen im Haar, tragen allen Schmuck, den sie besitzen, stehen ewig vor den kleinen Spiegeln, schmieren sich Puder ins Gesicht, der gut riecht und die Haut heller wirken lässt (hier gilt schließlich: je heller die Haut, desto schöner der Mensch) und, was mir an diesem Kult am besten gefällt, alle Mädchen waschen sich die Haare! Wie kann man bei diesem Trubel nicht mitbekommen, dass Besuch ansteht? (typisches Beispiel einer rhetorischen Frage)). (Ohoh, hoffentlich hab ich in diesem Klammer-Chaos nicht den Durchblick verloren…naja, mach ich mal schnell nen neuen Absatz!)

Alma hat mir neulich erzählt, dass Frauen, wenn sie lange Zeit zusammenleben, irgendwann zur gleichen Zeit ihre Tage bekommen. Das erklärt einiges. Zum Beispiel, dass unsere Köchin, wenn sie die Tür zur Vorratskammer (die im Übrigen nach dem Motto des genialen Helge Schneider Liedes (ok, welches seiner Lieder ist das nicht?!) „Es gibt Reis!“ konstruiert wurde) aufschließt, immer gleich 6-10 rieeeeeesige Packungen (SB-Union-Größe) Damenbinden herausholt (Tampons sind hier eine Rarität!). Wenn ich zufällig sehe, wem sie die Packungen dann in die Hand drückt bekomme ich in der Regel ein schamvolles Lächeln zurück, was ich unter dem Aspekt, dass hier ausschließlich Frauen leben, genauso wenig nachvollziehen kann, wie so einige andere Tatsachen auch: Wieso zum Beispeil zuppeln die Mädchen an mir herum, wenn mein Oberteil einen zu weiten Ausschnitt hat, wenn meine Leggins nicht den Knöchel bedeckt oder wenn man die Träger des BHs sieht?! Hallo?? Wir sind doch unter uns, unter Frauen! Dann kann das doch unmöglich als aufreizend verstanden werden, schließlich würde ich so ja nicht in die Stadt gehen. „Indian culture“, bekomme ich regelmäßig als Antwort auf meinen genervten Blick, wenn wieder mal ein Fetzen Haut zu viel zu sehen ist. Abgesehen davon, dass dieses Argument der Wahrheit entspricht ist es auch wirklich clever, da total entwaffnend. Was will man da noch sagen? Also lasse ich es zu, wenn mir mit Sicherheitsnadeln der Ausschnitt bis unters Kinn (ok, das ist geringfügig übertrieben) zugesteckt wird.

Und gerade als ich dabei bin, zu denken, ich könnte denken, wie Inderinnen denken, stehen zwei von ihnen abends vor meiner Tür und wollen, dass ich sie aufkläre über den Gebrauch von Tampons. Ganz ungehemmt (nein, sie waren nicht betrunken) und ganz selbstverständlich. Ok, dachte ich mir, warum nicht, und tat, was von mir verlangt wurde (als sie von mir forderten, es ihnen vorzumachen, stieg ich allerdings aus!). Interessiert hörten die beiden zu und fanden den Gedanken daran, Tampons zu benutzen skurril und völlig absurd (der Grund: „Indian culture“).

Gelegentlich bekommt man auch die allgemein bekannte Stutenbissigkeit zu spüren, jedoch muss ich sagen, dass ich immer wieder verblüfft davon bin, wie fair hier geteilt wird. Nicht nur die Arbeit (z.B. Putzen oder Gartenarbeiten) sondern auch das Essen. So bekommt es unsere Köchin hin, drei Papayas gerecht auf 20 Mädchen aufzuteilen und ich habe noch nie gesehen, wie eine 2 Liter Flasche Pepsi so exakt auf 16 Personen aufgeteilt werden kann. Da war jeder Tropfen im richtigen Becher!!

Der wohl größte Streitpunkt besteht aus Lästereien über den jeweiligen „hero“ der Mädchen (jedes Mädchen hat hier einen bestimmten Schauspieler (zu 98%iger Wahrscheinlichkeit hat er einen großen, markanten Schnauzbart), der sich „hero“ nennt als Schwarm, sprich: das Mädchen hat sämtliche Bilder von diesem Kerl aus der Zeitung ausgeschnitten und an einem sicheren, oft geheimen Ort versteckt, sodass sie ihn jederzeit anhimmeln kann). Und das ist starker Tobak (??), wenn man sich über diesen gottgleichen „hero“ lustig macht (was manchmal nicht völlig zu vermeiden ist, zumindest von meiner Seite aus).

Ihr seht hoffentlich: Das Leben ohne Männer hat seine Tücken. Besonders für mich, als Westlerin, die an das Leben mit Frauen UND Männern gewohnt ist,  ist das oft nicht einfach mit so viel Östrogen klarzukommen (schließlich ist es schon eine Herausforderung mit meinem eigenen umzugehen!).

Es ist schon wirklich interessant, so abgeschirmt von Männern zu leben und hat auch viele Vorteile (z.B. kann man viel ungehemmter tanzen). Nur eines kann ich jetzt nicht mehr tun zumindest nicht in dem Ausmaß, wie ich es bislang tat: Eine meiner Lieblingsbands kann ich nicht mehr länger hören, beziehungsweise nur noch ganz dosiert.

Der Grund? (nein, diesmal ist es nicht „Indian culture“! Obwohl…)
Die Band heißt „the xx“. Und das sind mir einfach zu viele „X“ unter den nicht vorhandenen „Y“s!

(eigentlich sollte der Eintrag hier beendet sein, allerdings ist mir gerade noch was eingefallen: )



Der Kompromiss?
Für zwei Lieder der „Yeah Yeah Yeahs“ (immerhin drei „Y“s! Und die Band ist auch schnieke!) werd ich jetzt eins von „the xx“ hören, um mein Gewissen zu entlasten und mir das Gefühl zu geben, endlich wieder was für die Männerquote zu tun. Und für den Fall, dass gar nichts mehr hilft, schließe ich mich ein und höre 5 Stunden Metallica. Die haben zwar kein „Y“ im Namen, aber dafür jede Menge davon in ihrer Musik!

Sonntag, 20. November 2011

Here we go again: 3 minutes in the brain of Birte


(Mein Hirn ist gerade voll mit wichtigen Sachen, weil hier echt gerade alles drunter und drüber geht und ich nicht weiß, wo ich die nächsten Monate leben werde. Deshalb ist es naheliegend, einen völlig sinnlosen 3-Minuten-Eintrag zu verfassen.)

Wassermelonen.

Ich liebe Wassermelonen. Auf meiner „Was ich in diesem Leben unbedingt noch tun muss“-Liste steht als Punkt 41 „eine 8kg schwere Wassermelone essen“ – allein versteht sich. Soeben saß ich mal wieder auf dem Dach, habe „Florence + the machine“ gehört und meine Wassermelone (die im Übrigen etwa halb so viel kostet wie ein Apfel!) gegessen. Zunächst hab ich sie mit meinem genialen Taschenmesser (damit ihr es euch von der Größe besser vorstellen könnt, nenne ich es ab jetzt lieber Rucksackmesser) geteilt. Ihr kennt das, die Hälften sind nie gleichgroß. Und da ich so große Lust auf diese köstliche Melone hatte, war für mich klar, zunächst das kleinere und somit unattraktivere Stück zu essen, um mir den leckersten Teil  für den Schluss aufzubewahren. Das tat ich und  aß und aß und aß. Und diese Geschichte sollte anders ausgehen, als die der Raupe Nimmersatt, denn irgendwann, es war etwa nach der Hälfte, spürte ich ein Sättigungsgefühl. Dumme Situation, schließlich hatte ich das beste Stück noch vor mir. Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen, unmöglich! Natürlich aß ich auch noch die zweite Hälfte, doch es war schon fast ein Zwang, ein Kampf gegen den inneren Schweinehund und natürlich gegen die Ameisen, die mir schon viel zu viel geraubt haben, als dass ich ihnen auch noch meine geliebte Melone opfern würde!

Beim letzten Bissen kam dann endlich die Erkenntnis, dass ich von nun an damit aufhören werde, mir das Beste für den Schluss aufzuheben. Ist ja auch totaler Schwachsinn, weil man dann Gefahr läuft, eben dieses am Ende nicht mehr schätzen zu können, weil man übersättigt ist.

Und wenn ich nächstes Jahr wieder nach Deutschland komme und ich hab immer noch Lust, die Welt zu sehen, dann werde ich reisen, anstatt zu studieren. Denn dann schmeckt die Wassermelone einfach am besten!


Mittwoch, 16. November 2011

Papaya oder Pinguin?


Nachdem ich nun über zwei Monate in Indien lebe (ich hab lange überlegt, ob dieses Wort an der Stelle passt und die Antwort war nein, doch ich mir fiel auch nichts Treffenderes ein…), möchte ich einen kurzen Vergleich  zwischen Deutschland und Indien anstellen, indem ich auch auf meine persönliche Entwicklung eingehen werde (na wenn das kein 15-Punkte Übersichtssatz ist!).


Ziemlich am Anfang meines Auslands-Jahres fragte mich ein Mädchen, wie warm es gerade in Deutschland sei und ich antwortete, dass es dort im Vergleich zu Indien, sehr, sehr kalt sei (man munkelt, es sei sogar bereits (Zitat: ) „arschkalt“). Die logische Frage, die sich meiner Äußerung anschloss war die, ob es denn dann in Deutschland Pinguine gäbe, was ich lediglich mit einem Lachen beantworten konnte (vor allem unter dem Aspekt des Klimawandels). So erklärt sich schon mal die Überschrift, denn dass die Papayas für Indien stehen (ich setze mich jeden Morgen bei schöner Musik und Sonnenschein aufs Dach und esse eine melonengroße, kernlose, extrem leckere Papaya), lässt sich auch ohne große Erklärung herleiten (die ich ja somit dennoch gegeben habe).


Was ich gelernt habe (spätestens jetzt wäre dieser Text keine 15 Punkte mehr wert, weil ich in Stichpunkten fortfahren werde):


  • Ø  Waschen mit Kernseife auf einem Stein bei minimalem Wasserverbrauch (zumindest theoretisch)
  • Ø  Leben aus  einem Koffer
  • Ø  Haarewaschen im Eimer
  • Ø  Entlausen
  • Ø  Spontanes Redenhalten, Singen und Tanzen im nüchternen Zustand, bei Tageslicht und unter großer Beobachtung
  • Ø  Ein paar Worte Telugu
  • Ø  Als Blondine wird man ständig abgezockt
  • Ø  „scharf“ ist relativ
  • Ø  Kokosnüsse zu öffnen
  • Ø  Eine stark (und das ist mit deutschen Verhältnissen einfach nicht vergleichbar!) befahrene Straße ohne bleibende Schäden zu überqueren
  • Ø  Rupees in Euro umzurechnen (nach über 2 Monaten fiel uns nämlich ein ähm…kleiner Rechenfehler auf, der sich allerdings zu unseren Gunsten auswirkt)
  • Ø  Wenn ein Inder mit „Ja“ oder „Nein“ antwortet, bedeutet das meistens, dass er die Frage nicht verstanden hat
  • Ø  „Englische“ Gottesdienste sind trotzdem auf Telugu (abgesehen von der Bekanntgabe einer „marriage“, sprich:  In über einer Stunde des offiziell englischen Gottesdienstes kamen etwa drei englische Worte vor)
  • Ø  Von den indischen Fahrzeugen würde nur ein winziger, quasi nicht erwähnenswerter Bruchteil den deutschen TÜV bestehen
  • Ø  Wer hupt hat Recht
  • Ø  Sämtliche Klatschspiele (dank Laxmi!)
  • Ø  Beim der Yogaübung „Hund“ die Hacken vollständig auf den Boden zu bekommen
  • Ø  Mit der Hand zu essen (habe meiner Technik schon fast perfektioniert!)
  • Ø  Leben mit und von Krabbeltieren aller Art
  • Ø  Ein Affe im Zoo hat kein schönes Leben
  • Ø  Die Jungfrau Maria hat möglicherweise einen indischen Sari getragen
  • Ø  Je heller die Haut, desto schöner und angesehener ist der Mensch
  • Ø  Kranke Straßenhund-Welpen werden schon mal ermordet, indem man sie einfach gegen einen Stein schlägt
  • Ø  Ich habe einen Schweinemagen
  • Ø  Glück kann man sich erarbeiten
  • Ø  Selbst mit 20 kann man noch unreine Haut haben
  • Ø  Es ist gut, wenn man immer Traubenzucker dabei hat
  • Ø  Wenn ein indisches Mädchen zum ersten Mal ihre Tage hat, gibt’s ein riesen Familienfest mit ganz viel leckerem Essen
  • Ø  Es gibt fast nichts, was man nicht selbst machen kann
  • Ø  Weichspüler, Stoßdämpfer, Stühle, Schuhe, und Besteck sind überbewertet
  • Ø  Ich werde nie wieder ohne Zip-Bags, Desinfektionsspray und Panzerband verreisen
  • Ø  Die Welt ist ziemlich groß
  • Ø  Ein Leben ohne Männer ist manchmal komplizierter als mit
  • Ø  Ich habe für die nächsten 20 Jahre die Nase voll vom Dorfleben
  • Ø  Der Mensch ist ein absolutes Gewohnheitstier
  • Ø  Und natürlich: „Indian boys are ALL dirty!“



Was ich mir vorgenommen habe:

  • Ø  Ich werde ein Buch schreiben, bzw. habe schon damit begonnen (ich erwähne das nicht, weil es gut wird, sondern damit ich mehr unter Druck stehe, um es auch wirklich eines Tages fertig zu schreiben)
  • Ø  Ich möchte die nächsten Jahre an Weihnachten zu Hause sein
  • Ø  Ich werde nur etwas studieren, was mir wirklich Spaß bereitet
  • Ø  „Die Drei ??? und die Schattenmänner“ einmal bei Nacht komplett durchzuhören ohne vor Angst fast zu sterben
  • Ø  Ich will in meiner späteren Wohnung immer einen vollen Obstkorb haben
  • Ø  Ich werde vor meiner Rückreise meinen ganzen Koffer mit indischem Essen vollstopfen
  • Ø  Ich werde mir nun jedes Mal, wenn ich in Ghatkesar bin einen Fruit-Mix für 10 Rupees (ca 18 Cent) gönnen!
  • Ø  Ich werde diese Liste nun beenden, weil sie sonst nie endet (ich hab mir schon ne extra Liste angelegt mit dem Titel „Dinge, die ich in meinem Leben unbedingt noch tun muss“, die bereits 89 Punkte hat…) 



Woran ich weiterhin arbeiten werde:

  • ·         An meiner Ordnung
  • ·         An meiner Geduld
  • ·         An meinem Ekelempfinden
  • ·         An meiner Spinnen-Angst
  • ·         An meinen Gefühlsausbrüchen
  • ·         An meiner starken Unlust, Entscheidungen zu treffen
  • ·         An meiner nachtragenden Art
  • ·         An meiner Toleranz
  • ·         An meiner Zerstreutheit (ok, ich gebe es hiermit zu: manchmal(!) ist es mehr als eine 3…)
  • ·         An meiner generellen Belastbarkeit
  • ·         An meiner Impulsivität
  • ·         An meiner Rückenmuskulatur (sonst bringt mich die „Matratze“ noch um!)
  • ·         An meiner Freshness und Lässigkeit
  • ·         Und daran, irgendwann mal zum Punkt zu kommen – Punkt.



Oh Mann, ich könnte an diesen Listen wirklich endlos weiterschreiben, schließlich waren das die Dinge, die mir innerhalb einer halben Stunde eingefallen sind…
Angesichts der vielen Dinge, die ich hier gelernt habe und die mir in Deutschland wohl nicht widerfahren wären, tut Indien mir wirklich gut. Ich habe mich mittlerweile wirklich gut eingelebt und mich mit allem irgendwie arrangiert. Doch es gibt viele Dinge, an die ich mich zwar gewöhnt habe, die ich jedoch nie wirklich schätzen werde. So macht es mir nichts oder kaum etwas aus, wenn ich Haare und Insekten in meinem Essen finde, wenn in der Küche Ratten sind, wenn mir nachts die Ameisen übers Gesicht krabbeln, wenn mein ganzer Kopf voller Läuse ist, wenn das Bad nie wirklich sauber wird, wenn man vor jedem Klospülen erst 10 Liter Wasser in den Behälter füllen muss, wenn ich nicht ausschlafen kann, weil mein Rücken so wehtut, wenn im Bad circa 20 Spinnen leben, wenn man sich nach dem „Duschen“ sofort wieder dreckig fühlt. Damit komme ich klar, auch weiterhin. Doch ich werde den Wunsch nach einer richtigen Dusche, in der das Wasser und somit auch der Dreck von oben nach unter runterläuft ohne das ganze Bad zu überfluten genauso wenig loslassen können, wie den Traum vom krabbeltierfreien Schlaf. Ich denke, diese Erfahrungen tun mir gut, ich werde davon langfristig profitieren und sie sind es letztlich auch, die mich hierher kommen lassen haben (zumindest auch).


Es gibt unendlich viel, was ich an den Pinguinen schätze und vieles davon ist mir auch erst in den letzten beiden Monaten klargeworden. Doch im Moment ist hier Papayasaison, was mir die Entscheidung zwischen Pinguin und Papaya dann doch erleichtert ;)

Freitag, 11. November 2011

Wie ich für einen Moment die Welt der „dirty“ Tempelritter aus ihren Ankern riss


Jippie! Endlich ein Ausflug! Endlich ein Grund, mal wieder Kajal aufzutragen und Schuhe anzuziehen!
Es ging zum nahegelegen Tempel in Keesara, weil heute irgendein religiöses Fest ist (ich hab bestimmt schon fünfmal nachgefragt, wie dieses Fest heißt, doch zu meiner Schande, kann ich mir den Namen einfach nicht merken…man wird halt auch nicht jünger!). Also wurde die etwa 50 Frau große Gruppe durch zwei geteilt, da wir nur ein Auto zur Verfügung hatten. 24 Personen, Kekse und Snacks für 50 Personen, ein 20 Liter Wasserkanister, etliche Schälchen und Becher und ich im ersten Auto. (Ich kann mir nicht vorstellen, dass auch nur einer der etwa 1,3 Milliarden Inder Platzangst hat, denn mit einer solchen Krankheit wäre man hier quasi nicht überlebensfähig.) Wie gut, dass ich mich nach nun zwei Monaten recht gut an diese Art von Körperkontakt gewöhnt habe und dass die Strecke zum Tempel wirklich recht kurz war. 

Dort angekommen warteten wir zunächst einmal auf die zweite Gruppe, in der auch Alma war. Ich nun also als einzige Nicht-Inderin unter einem Haufen Einheimischer. Es war mir fast peinlich, wie sehr die Mädchen untereinander darum kämpften, meine Hand halten zu dürfen und dass nur, um auch einen Bruchteil der Aufmerksamkeit ergattern zu können, die mir zuteil wurde und die ich mittlerweile echt satt habe (wer hätte gedacht, dass ich jemals an diesen Punkt kommen würde?). Ich bemühte mich, eine positive Grundeinstellung zu bewahren und lächelte in der Gegend herum. Schließlich ist lächeln, neben singen und tanzen, das einzige, was jeder Mensch versteht. Hin und wieder spielte ich beim Gehen an meiner Kamera herum, was zwar total prollig ist, was aber in dem Moment der einzige allgemein akzeptierte Grund war, mir mal keine schwitzige Hand aufzuzwingen. Überall Blicke, Lächeln, Fotos und ständiges Kichern über eben diese Reaktion der Menschen seitens der Mädchen, die sich ja eigentlich schon längst an mich gewöhnt haben, die jedoch in der Öffentlichkeit einen viel anhänglicheren Umgang mit mir pflegen, ja manchmal sogar damit angeben, mich zu kennen. Wir gingen, nachdem etwa 20 Fotos von mir in sämtlichen Situationen geschossen wurden in einen Park, der zwar ziemlich künstlich wirkte, mich jedoch irgendwie trotzdem total faszinierte, weil er einigermaßen sauber war. Zunächst standen wir in einem Kreis. Ich war immer noch positiv gestimmt, es viel mir leicht zu lächeln und die immer gleichen Fragen nach meinem Namen und der Herkunft und der Absicht nach Indien zu kommen zu beantworten. Es geht meistens weniger darum, mich zu verstehen (denn das trifft in den seltensten Fällen zu), sondern darum, generelles Interesse an mir zu zeigen und mir gleichzeitig zu signalisieren, dass man diese drei englischen Sätze beherrscht.

Je mehr ich lächelte, je mehr Fragen ich beantwortete, je mehr Kinderhände ich berührte, desto größer wurde das Interesse an mir. Schließlich meinten meine Begleiterinnen, ich solle mich lieber hinsetzen, was ich auch tat. Doch da ich nun in meiner Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt war, wurde ich als Fotoobjekt nur noch attraktiver. Also stellten sich etwa 6 Mädchen um mich herum, was quasi als Schutzwall dienen sollte. Besonders eine Gruppe junger Männer ließ sich von diesen für mich immensen Maßnahmen nicht wirklich beeindrucken, also drehte ich mich schließlich mit dem Gesicht zu einem alten, vollgemüllten Busch. Super, von wegen schöner Park! Es tummelten sich mittlerweile rund 30 Menschen um mich herum, die meisten waren Jugendliche oder junge Männer, die Familien schickten ihre kleinen Kinder zu mir, die gar nicht wussten, wie ihnen geschah, denen ich aber immer ein Lächeln schenkte. Zum ersten Mal hatte ich Mitleid mit Knut. Als Eisbär im warmen Berliner Zoo muss es wohl noch schlimmer sein, als als blonde Frau im überfüllten indischen Park. Ständig riefen die Männer irgendetwas, manchmal kicherten die Mädchen verlegen und ich wusste nicht, ob ich froh sein sollte, sie nicht verstehen zu können oder nicht. Jedenfalls störte es mich sehr, nicht reagieren zu können, sondern stattdessen auf die Schlagfertigkeit kleiner Mädchen angewiesen zu sein.

Ich weiß nicht, wie er es schaffte, den Schutzwall zu durchbrechen, (ich konnte ja außer dem bescheuerten Busch auch nichts sehen!), doch plötzlich stand ein Mann vor mir, reichte mir die Hand und sagte: „Hello Madame, how are you?“
Ich weiß nicht, ob ich es aus Höflichkeit tat, oder weil der junge Mann sehr freundlich wirkte, aber wahrscheinlich passierte es einfach aus Gewohnheit. Ich reichte ihm auch meine Hand und sagte: „Oh, I’m fine, thank you.“ Stille. Entsetzen. Alle Augen, wirklich ALLE in meinem näheren Umfeld starrten mich nun an. Na klasse Birte, das hast du wieder toll gemacht, dachte ich mir, und noch bevor ich mir ausführlich zu der Situation gratulieren konnte, in die ich mich gebracht hatte, sagte Saramma, eines der Mädchen aus dem Heim aufgeregt: „Oh sister, don’t do that!!! Indian boys are all dirty!!!“ Ok. Meinetwegen. Hinnehmen. Statt zu besänftigen, hatte ich die Männermasse um mich herum nur noch mehr angestachelt und ihnen neuen Zündstoff gegeben. Ich hörte, wie sie etliche Male den kurzen Dialog mit mir durchgingen. Dies war mal wieder Grund genug für mich, ein Selbstgespräch auf Deutsch zu führen, was ich natürlich laut tat, da mich niemand versteht (hoffentlich hab ich mir das wieder abgewöhnt, wenn ich in Deutschland bin!). Die letzten Hemmschwellen waren nun gebrochen, die Männer hüpften mit ihren Handykameras vor mich und meinen treuen Freund, den Busch, und schossen ein Foto nach dem anderen. Das war genug. Zwei Mädchen eilten zu Nagomanie, unserer Torwächterin, die die erste Gruppe begleitet hatte und während des Spektakels abseits stand. Diese kam in großen Schritten auf die Männer zu und brüllte wie eine Löwin, die ihre Jungen beschützt (in dieser Situation hätte ich nur zu gerne Telugu verstanden!). Nachdem der Mann, der mir die Hand gereicht hatte, unschuldig mit den Schultern zuckte, holte sie kurz entschlossen aus und knallte dem Typen eine. Aber so richtig. Volle Kanone. Mitten ins Gesicht. Es hat geklatscht wie bei Bud Spencer!
Die Mädchen forderten nun auch mich auf, einen, wie sie sagten, „Karate-Trick“ anzuwenden und den Typen somit nochmal selbst zu vermöbeln. Ich musste wirklich lachen bei der Vorstellung, demselben Kerl, dem ich vor wenigen Sekunden noch die Hand gegeben habe, eine zu scheuern. Ich führte also ein weiteres Selbstgespräch (ich glaub die Mädchen merken gar nicht, dass es Deutsch und kein Englisch ist, was ich dann vor mich hin blubbe). Ach nein, Karate kann ich ja außerdem gar nicht, ich könnte den „Feind“ höchstens mit meiner berüchtigten Brennnessel in die Flucht jagen… Noch ehe mein offenkundig nicht sehr tiefgründiges und gehaltvolles Selbstgespräch beendet war, hatte Nagomanie einen solchen Eindruck hinterlassen, dass wir von nun an von lästigen Zuschauern befreit waren. Ob mir das mit meiner Brennnessel wohl auch gelungen wäre? Die Frage wird wohl für immer offen bleiben, von daher gebe ich mir die Antwort, die gerne hören will…
Endlich kam die zweite Gruppe! Endlich nur noch die halbe Aufmerksamkeit! Endlich ging es los zum Tempel. Nachdem wir durch kleine Gittergänge gelaufen waren, die den Warteschlangen vor Achterbahnen ähneln, ging es ab ins Gebäude. Zunächst mussten wir eine Glocke läuten, zweimal, mit der rechten Hand – und zwar jeder! Also ständiges Geläute. Ich fragte mich, wie es die (im Übrigen halb nackten!) Männer im Tempel aushielten, den ganzen Tag dieses Gebimmel zu ertragen… Ich verstand überhaupt nichts von dem Kult, der sich vor meinen Augen abspielte. Mal setzte man mir eine eiserne Glosche auf den Kopf, dann bekam ich einen roten Punkt auf die Stirn gemalt. Ich befolgte einfach stupide was mir gesagt wurde, beziehungsweise, da in der Regel niemand was sagte, imitierte ich einfach das Verhalten der anderen. Es ging in einen Raum mit vielen kleinen Statuen von Affen und Elefanten (Ich: „Und dieser Elefant da ist also euer Gott?“; Mädchen (ganz entsetzt): Nein, das ist kein Elefant, das ist Gott!!“).

Die Mädchen und die Heimleiterin, die unmittelbar vor mir gingen griffen ständig mit einer Hand an diese Figuren und küssten jene dann um danach mit den Fingern ein Kreuz (oder so was in der Art) auf ihre Brust zu malen. Die ersten drei Statuen tat ich einfach nichts außer zusehen und ernst bleiben. Dann wurde ich aufgefordert, mitzumachen. Ok, dachte ich mir, nach den ganzen Flöhen und Läusen werden dich die paar Bakterien auch nicht mehr umbringen, und griff nach der Figur.
Die Inder, so habe ich festgestellt, haben in der Regel ohnehin recht große Augen. Doch diese vergrößerten sich in dem beschriebenen Moment nochmal locker um das doppelte. Ich Tölpel! Das hätte ich nun wirklich wissen müssen! War das etwa schon wieder ein blonder Moment, die Strafe für den kurzen Körperkontakt mit dem „dirty“ Inder oder lag es an der Überlegung mit den Bakterien? Keine Ahnung, was mich da geritten hat, aber ich habe DEN Fehler schlechthin gemacht: Ich nahm nicht die rechte, sondern die linke, unreine Hand. Schande über mein Haupt! Und alle haben es mal wieder gesehen, weil alle gespannt darauf warteten, wie sich die dumme Deutsche verhält. Wahrscheinlich haben sie gehofft, dass ich mich blamiere und da hab ich ihnen eben den Gefallen getan. Auch der Tempel-Mann an der nächsten Station, der eine weitere Glosche für den Kopf bereithielt blickte mich entsetzt an und weigerte sich für einen kurzen Moment, mir die goldene Schüssel auf den Kopf zu setzen. Nach einem kurzen Kommentar seitens der Heimleiterin hat er es dann aber doch gemacht (ich war froh, KEIN Telugu zu verstehen, das wäre bestimmt peinlich für mich gewesen…). Meine Augen sahen schon den Ausgang in unmittelbarer Nähe, als ich an den Händen gepackt wurde und in einen kleinen, sehr dunklen Raum gezogen wurde. Hier standen nun vier Männer, die wirklich quasi nichts anhatten, vor einigen pechschwarzen, menschengroßen Figuren mit riiieeeesigen weißen Augen, und bunten Kleidern, die total unheimlich waren! Einer der Männer fragte etwas und die Mädchen um mich herum antworteten mit ihrem Namen. Ich war schon stolz, weil ich das Gefühl hatte, alles verstanden und die Lage im Griff zu haben. Die Männer sprachen eine Art Gebet, nachdem sie den Namen der Person erfahren hatten und banden diesen darin ein. So. Nun war ich an der Reihe. Laut und klar sagte ich „BIRTE“. Natürlich verstand er diesen Namen nicht. Nachdem ich ihn zweimal wiederholt hatte und die übrigen, streng gläubigen Hindus im Raum langsam die Geduld verloren antwortete eines der Mädchen für mich und sagte, dass ich „PRIYA“ heiße (das bedeutet übrigens „darling“!). Also gut, dann wurde eben nicht Birte, sondern Priya heilig gesprochen, was solls, bei meinem Geschick den Fettnäpfchen aus dem Weg zu gehen hab ich diesen Sonderbonus ja auch gar nicht nötig. Zum Abschluss sollten wir nun noch eine Blume vom Tablett nehmen, auf dem auch Kerzen standen. Ich griff also ohne langes Zögern zu, war froh, dass ich nichts mehr sagen musste und dass ich wie selbstverständlich die rechte Hand nahm. Plötzlich schnappte das Mädchen rechts von mir laut nach Atem und rief „Sister!!“. Ich bemerkte, wie mein Oberteil am Arm leicht anfing zu dampfen. Offensichtlich war ich zu nah ans Feuer gekommen. Ich zog den Arm weg und wie das für mich typisch ist, gelang mir das nicht, ohne ein entsprechendes Geräusch des Entsetzens auszustoßen. Da war es vorbei mit der spirituellen Ruhe. Nein, nein, es ist nichts passiert, aber ich war ja so froh aus diesem Tempel draußen zu sein!

Und die Moral von der Geschicht‘:  Inder sind alle „dirty“, ich wünschte, ich hätte nicht zwei linke, sondern zwei rechte Hände und „Mit Feuer spielt man nicht“!

Achja: Und ich werde ernsthaft darüber nachdenken, Karate zu lernen

Montag, 7. November 2011

Lebenserwartung, Erwartungen an das Leben und anderer Unsinn, oder: Ode an die Mathematik


Es kann kein Zufall sein, dass meine Haare durch die Sonne noch blonder werden. Bei Sonne findet die Aufnahme meiner Solar-Taschenlampe mit Energie antiproportional zu der meines Hirns mit Eindrücken statt. Dieser Prozess gipfelte soeben in einer relativen Maximalstelle. Ich saß auf dem Dach und aß meine frisch gekaufte Papaya. Was mit Gedanken wie „Meine Güte, ist die aber lecker! So süß und ganz weich! Und das für die paar Cent, das ist schon echt genial…“ begann, endete nach nur wenigen Augenblicken in einem primitiven „GEIL“-Gedanken. Ich blicke in die Sonne und denke „Sonne.“. Nicht auszumalen, wie die Situation wohl verlaufen wäre, hätte ich nicht zeitgleich Vitamine, sondern lediglich Fett und Zucker zu mir genommen! Womöglich hätte ich dann „Mond.“ gedacht… Nur gut, dass ich mich mittlerweile in den Schatten gesetzt habe. Warum ich dann trotzdem so eine schwachsinnige Einleitung schreibe?? Naja, eigentlich hatte ich den Hintergedanken, euch eine perfekte Rechtfertigungsvorlage zu liefern, falls ihr der Auffassung seid, es bedarf einer solchen, wenn ich euch sage, dass ich im Internet meine Lebenserwartung ausgerechnet habe (viel mehr „ausrechnen lassen“, aber nach den geschickt verwendeten mathematischen Floskeln im zweiten und dritten Satz dachte ich, es nimmt mir vielleicht jemand ab, wenn ich behaupte, es selbst getan zu haben…). Doch jetzt so im Nachhinein fällt mir ein, dass ich diesen Hintergedanken ebenfalls hatte, als ich mich in der Sonne aufgehalten habe. Oh Himmel, wenn ich nur halb so verwirrt bin, wie ich klinge ist es höchste Zeit, in eine andere Klimazone umzuziehen! (Oder ist es etwa möglich, dass die Läuse auf meinem Kopf Mutanten sind, die nicht nur mein Blut, sondern auch mein Hirn aufsaugen?!)

So, Schluss jetzt mit der Firlefanzerei! Laut Internet beträgt meine Lebenserwartung 96,7 Jahre. Klingt ja schon mal recht viel, wie ich finde. Das kommt aber wohl hauptsächlich zustande, weil ich bei der wöchentlichen sportlichen Betätigung und beim Alkoholkonsum gelogen habe. Aber ihr kennt das ja: Ab sofort wird alles anders – besser versteht sich! Vor einigen Tagen habe ich meinen 20. Geburtstag… nun ja… gefeiert  (wenn ich nicht wüsste, dass mir alle nen Vogel zeigen, würde ich erlitten schreiben). Ich verstehe es ja selbst nicht, schließlich hatte ich 20 Jahre Zeit, um mich auf diesen Tag vorzubereiten und mich darauf einzustellen. Es geht in erster Linie einfach um die Zahl. 20 sieht ja schon mal  an sich ziemlich blöd aus, ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass 20 eine äußerst unattraktive Zahl ist. Und dann geht es natürlich um die Bedeutung von 20. Mit zwanzig kann man sein Verhalten nicht mehr mit „postpubertären Phasen“ rechtfertigen, man ist auch nicht mehr süß und schon gar nicht unschuldig! Jetzt das naive Blondchen zu spielen wäre lediglich ein Zeichen von Schwäche, und selbst bei meinen schauspielerischen Fähigkeiten würde mir das niemand mehr ernsthaft abnehmen (ist ja auch vollkommen abwegig – ich und naiv!). Mozart war 15, als er seine erste Schuloper komponierte, Magdalena Neuner war bereits mit 19 dreifache Weltmeisterin und ich werde frühestens dann mit diesem Blog weltberühmt werden, wenn ich schon 20 bin, weil sich die Zeit nicht mehr zurückdrehen lässt. Und auch das mit dem Aufhalten wird spätestens dann wieder schwierig, wenn ich in Deutschland bin, wo es nicht an jeder Ecke Granatäpfel zu kaufen gibt, die die Haut jung halten. Ach es ist vergeblich und der einzige Grund, warum ich deshalb nicht durchgehend grimmig gucke ist der, dass das die Faltenbildung fördert.

20 Jahre von erwarteten 96,7, das sind nach Adam Riese etwa 20,68%. Von meinem Leben ist prozentual gesehen also schon mehr verstrichen, als von meinem Jahr in Indien. Da sind es nämlich derzeit so um die 17%.

 Ich habe also noch ungefähr 80% meines Lebens auf der Erde, sowie in Indien vor mir und ich bin mir nicht sicher, ob das viel oder wenig ist.  Ist auch eigentlich Unsinn, sich darüber Gedanken zu machen, weil ich dann erstens nur weitere Zeit verschwende, zweitens kann im Leben sowieso jederzeit was dazwischen kommen, zweieinhalbtens (da ich dieses Argument in abgewandter Form bereits hatte) will ich keine hässlichen Denkfalten auf der Stirn, sonst muss ich am Ende noch mit 40 mit diesem kindischen Pony rumlaufen, drittens habe ich eh gelogen bei den Angaben zur Berechnung meiner Lebenserwartung, viertens freue ich mich jetzt schon auf meinen 21. Geburtstag, da kann ich nämlich in Las Vegas am Pokertisch Cocktails schlürfen, viertens werde ich mich jetzt wieder in die Sonne setzen um die 80% nicht am Schreibtisch zu verbringen und fünftens……ist mir soeben entfallen.


Dienstag, 1. November 2011

Another 3 minutes in the brain of Birte


Heimweh.

“Heimweh”, so lautet ein Spruch, “ist wie ein See. Du kannst selbst entscheiden, ob du reinspringst, oder am Ufer stehen bleibst.“

Möglicherweise hat diese Aussage keinerlei Wahrheitsgehalt.

Vielleicht hat sich das jemand ausgedacht, um Menschen den Mut zu geben, sich überhaupt in eine Situation zu begeben, in der man Heimweh bekommen könnte.

Schätzungsweise sollte man solche altklugen Sprüche gar nicht ernst nehmen.

Bestimmt ist das ein Gerücht, das ein bemitleidenswerter, rastloser Einsamer  in die Welt gesetzt hat, der selbst nie ein Zuhause hatte.

Höchst wahrscheinlich will der Autor lediglich vortäuschen, dass man das Heimweh kontrollieren kann und dann Schuldgefühle wecken, falls es nicht klappt.

Das muss eine verdammte Lüge sein, die sich irgendein egoistischer und selbstverliebter Schwachmat zusammengesponnen hat, weil er  Angst vor seinen eigenen Gefühlen hatte!

„Ok, Birte, mag  sein, dass dir der Spruch nicht gefällt. Aber glaub mir, er ist nicht gänzlich unwahr.“, sagte das Heimweh-Männchen. „Oh, nein, ich mag den Spruch. Sehr sogar. Ich fürchte mich lediglich vor dem Moment, an dem ich der Versuchung, mit voller Wucht ins Wasser zu springen, nicht mehr widerstehen kann.“
Lautes Lachen ertönte. „Aber siehst du denn nicht, dass wir bereits seit über 50 Tagen schwimmen? Denn wenn dein Heimweh ein See ist, so ist dein Fernweh ein ganzer Ozean!“, sagte das Heimweh-Männchen, nahm Anlauf und sprang quietschend und mit voller Wucht in den Ozean.

Freitag, 28. Oktober 2011

Warum das Leben kein Ponyhof ist



Dass das Leben hier noch weniger einem Ponyhof ähneln würde wie das in Deutschland, war von Anfang an klar. Und dennoch bin ich teilweise frustriert, wenn ich feststelle, dass ersteres nicht mal annähernd einem Eselstall gleicht. Ja, manchmal fühle ich mich sogar wie im Rattenkäfig. 

Heute hab ich zum ersten Mal ernsthaft gedacht: „Ich wäre jetzt gerne Zuhause.“ Warum jetzt, warum heute? Ich kann nicht behaupten, dass es mir gerade schlecht geht. Natürlich gibt es Hoch- und Tiefpunkte, doch sie finden alle in einem sehr akzeptablen Rahmen statt. (Die letzten Tränen hab ich vor drei Tagen  vergossen, als mir beim Yoga Schweiß in die Augen lief, also im Nachhinein nichts Dramatisches (in dem Moment natürlich schon, weil ich für kurze Zeit erblindete und bei meinem „Oh-scheiße-das-brennt!!!-Tanz“ über ein Rohr stolperte…naja, den Rest der Geschichte lass ich mal unkommentiert…!) )

Doch kennst du das? Wenn man sich unter vielen Menschen furchtbar einsam fühlt? Vielleicht, weil sie alle Fremde sind, vielleicht, weil man sich kaum mit ihnen verständigen kann, vielleicht aber auch einfach, weil sie einen komplett anderen Lebenstil verfolgen, als du… Ich weiß nicht, aber ich habe mich hier schon oft von allem verlassen gefühlt: Von Menschen, Dingen, Gewohnheiten. Ja, manchmal fühlte ich mich sogar gottverlassen in meinem Rattenkäfig mitten im Nirgendwo.

Und heute, am Tag, an dem alle wichtigen Menschen in meinem Leben bei mir Zuhause in Reichensachsen sitzen, fiel es mir plötzlich wie Schuppen von den Augen: Ich wurde nicht verlassen, nein. ICH war diejenige, die alle verlassen hat. Und diese äußerst primitive Einsicht baut mich  auf, weil ich daran erinnert werde, was mich hierher getrieben hat, dass ich freiwillig hier bin und dass es in Deutschland Menschen gibt, die auf mich warten. Ein schlechtes Gewissen habe ich nicht, dafür ist mein Ego zu groß. Ich habe nur lediglich manchmal das Gefühl, etwas zu verpassen, doch auf meiner Liste, der Eigenschaften, die ich mir während meines Indien-Jahres aneignen will, steht auch: „Damit aufhören, mich und mein Leben mit dem anderer zu vergleichen“. Und mal ehrlich: Der Schuppen hat sowieso unheimlich an Charakter verloren und ohne mich ist es dort bestimmt sowieso ziemlich langweilig (an dieser Stelle könnt ihr selbst entscheiden, ob ihr den letzten Satz in die „Ironie-Schublade“ stecken wollt oder nicht…).

So, und um zu verstecken, dass dieser Text keinen roten Faden hat, nehme ich jetzt nochmal Bezug auf die Überschrift:

Ponyhöfe sind bestimmt sowieso blöd. Da gibt’s nur Stress mit Tussen, die sich um das Pferd mit der längsten Mähne streiten, die Ponys dort sind völlig willenlos und statt nem kühlen Blonden trinkt man nen heißen Früchtetee, ungesüßt, versteht sich. Davon abgesehen, würde ich als Pferd viel lieber auf nem richtigen Bauernhof leben, wo auch mal andere Gestalten, wie Kühe und Schweine rumlaufen. Natürlich: Ponys sind ja soooo süüüüüß (besondern wenn sie Polly heißen, steinalt sind, kaum noch gehen können und zu 95% blind sind…)! Reiten macht auch tierisch Spaß, bestreite ich gar nicht. Doch wenn man sein Leben auf dem Ponyhof verbringt kann man auch gleich als Hamster im Rad leben.


Das Leben ist kein Ponyhof, weil es mehr als nur Ponys gibt und alle Tiere irgendwann Bewegung brauchen. Und wenn es nur ein wenig Auslauf im Rattenkäfig ist…

Freitag, 21. Oktober 2011

Das Rauschelchen im Vollrausch!


Eieiei! Es ist ja so viel passiert in den letzten Tagen…
Doch die größte Sensation von allen ist eindeutig die, das nun endlich wieder Busse fahren!! Nach etwa vier Wochen, in denen es mir quasi unmöglich war das Heim und das Kaff zu verlassen, steht mir nun das Tor zu großen weiten Welt wieder offen, zumindest fühlt es sich so an. Und abgesehen davon, hat die Sache mit dem Busfahren auch einen sehr angenehmen Nebeneffekt: man lernt Menschen kennen. So hab ich am Mittwoch auf der etwa einstündigen Fahrt nach Tarnaka mit Fatima, eine jungen Grundschullehrerin, und ihrer Freundin, deren Namen ich zu meiner Schande vergessen habe,  Bekanntschaft geschlossen. Wir konnten uns einigermaßen passabel unterhalten, was wirklich eine positive Abwechslung darstellte, da das in der Regel aufgrund der sehr geringen Englisch-Kenntnisse und dazu der…nun ja…sagen wir mal „anderen“ Aussprache der Inder nicht möglich ist, bzw. eine Unterhaltung nicht über „How are you?“ und „Where do you come from?“ hinausgeht. Fatima hat mir ständig gesagt, wie „sweet“ ich doch sei und uns (Alma und mich) dann schließlich zu sich nach Hause eingeladen, woraufhin wir unsere Nummern getauscht haben. „Waiting for your call!“ war das letzte was sie sagte, bevor sie sich mit einem breiten Grinsen verabschiedete.

Im Office unserer Organisation angekommen, hatten Alma und ich dann ein längeres Gespräch mit unserer Chefin Sumitra über unsere zukünftige Wohnsituation, weil es doch oft nicht einfach ist, hier zu leben, auf engstem Raum mit der indischen Kultur, teilweise ohne Rückzugsmöglichkeiten, unter lauter Fremden, die einen so gut wie gar nicht verstehen, mitten im Nirgendwo. Jedenfalls war das Ergebnis unseres Gespräches, dass wir hier bleiben, da die Stadt zu weit weg vom Heim ist und es im Office für uns nichts zu tun gibt. Allerdings werden wir zum einen nun häufiger (dem Ende des Busstreiks sei Dank!)  in die Stadt fahren und eventuell auch mal übers Wochenende in ein Hostel ziehen um auch noch eine andere Seite Indiens zu sehen, die das Leben für uns als „Westler“ um einiges vereinfacht! Denn als wir dann zu zweit loszogen, fühlten wir uns wie Kaspar Hauser, als  er zum ersten Mal das Tageslicht sah, wie eine junge Mutter, die nach Schwangerschaft und Stillzeit endlich wieder Alkohol trinken darf, wie Benjamin Blümchen, als er nach zwei Monaten Zucker-Entzug von seinem Freund Otto zum Geburtstag einen ganzen Berg Zuckerstückchen bekommt, wie Christoph Kolumbus, als er Amerika entdeckte, wie Fabian Hambüchen, der nach einer Verletzung für 5 Wochen nicht trainieren konnte, wie Kurt Cobain, als er das erste Mal Drogen konsumierte.

Denn was Deep Purple ohne „Smoke on the water“ ist, was Bibi Blocksberg ohne ihren Besen Kartoffelbrei ist, was Pünktchen ohne Anton ist, das bin ich ohne ein Minimum an westlichen Gewohnheiten.

Ich hätte ohne weiteres in einen extremen Kaufrausch verfallen können, doch ich konnte mich beherrschen, sodass es nur ein recht großer Kaufrausch wurde. Wir setzten uns zum ersten Mal in eine Art Cafe und tranken etwas, wir kauften in einer indischen Konditorei massenweise (ok, in diesem Fall spreche ich nur von mir…) Süßigkeiten, fanden eine Buchhandlung und schließlich das indische „Real“, das sich hier „Big Bazaar“ nennt. Wir mussten unsere Taschen an einer Garderobe abgeben und durch eine Sicherheitssschläuse gehen, die der am Flughafen in nichts nachsteht (inklusive Abtasten!). Doch was unsere Augen dann erblickten, ließ meinen Atem stocken und dennoch stand ich gleichzeitig kurz vor dem Hyperventilieren. Die oberen drei oder vier Etagen hatten wir schnell durchforstet, denn eigentlich wollten wir nur unsere Vorfreude auf das Untergeschoss, wo es Nahrungsmittel gab, ins Unermessliche steigern, was uns tatsächlich gelang.

Es gab echte (!!!) Cola, es gab Käse, Nudeln, Nutella, Erdnussbutter, Ritter Sport, Chips – kurz: Es gibt alles, was man zum Leben braucht! Der Wahnsinn!! Seit 38 Tagen habe ich quasi vegan gelebt (mal abgesehen von dem Schluck Milch in meinem Tee), drei Mal täglich Reis gegessen, mal mit Blättern, mal mit Bohnen, mal mit Erbsen oder sämtlichem vergleichbaren Gemüse, dass ich zuvor nicht kannte. Immer scharf, nie einen Tropfen Öl oder einen Krümel Zucker mehr, als unbedingt notwendig, immer stilles Wasser (außer der Fake-Cola, die ich mir zwei Mal geholt hatte). Nein, ihr könnt euch nicht vorstellen, was das für ein Gefühl war!

Und zu eurer großen, aber meiner noch viel größeren Verwunderung konnte ich von den allermeisten Sachen die Finger lassen. Denn als ich es so sah, alles auf einem Haufen, der totale Überfluss, da stellte ich fest, dass ich doch irgendwie noch drauf verzichten kann. Natürlich nicht auf alles. Ich kaufte mir kleine Kuchen, Cola und Bonbons. Keinen Käse (der war mir auch ehrlich gesagt zu teuer), kein Nutella, keine Schokolade. Ich wusste einfach, dass ich mich in einem anderen Moment noch viel mehr über diese Dinge freuen würde, es war einfach noch nicht an der Zeit.

Dann gingen wir mit etwa acht Tüten beladen und ziemlich erschöpft zurück ins Office. Ich war einerseits überglücklich, habe mich andererseits aber auch noch nie in meinem Leben so ausländisch gefühlt. Ich bin der weiße Touri, der wirklich alle Klischees erfüllt, von der teuren Cola bis hin zur Sonnenbrille. Aber ich konnte mich mit dem Gedanken arrangieren, denn ich wusste, dass dieser Moment vergänglich ist, und dass ich ansonsten ein ziemlich indisches leben hier führe, vom Reis bis zum Yoga.

Da wir noch nicht selbstständig Busfahren können, weil es keinen Fahrplan gibt und man blitzschnell reagieren muss, wenn der richtige Bus kommt, da sie immer nur für Sekundenbruchteile, so scheint es, anhalten (die meisten steigen während der Fahrt zu), kam Saramma, ein 14-jähriges und ziemlich kleines Mädchen aus dem Heim mit uns. Und schon wurde mir bestätigt, dass das Gefühl vom Klischee-Touri vergänglich ist. Denn wir sahen nun aus wie Frodo und Sam, die von Gollum nach Mordor geführt werden, um den Ring ins Feuer zu werfen, nur sahen wir natürlich tausend Mal besser aus! Zumindest ich war völlig orientierungslos, mit Essen bepackt und erschöpft. (An dieser Stelle könnte ich jetzt auch eine klasse Parallele zwischen Mordor und Bogaram ziehen, doch ich glaube ich wäre nur noch frustierter von dem Ergebnis, wenn mir auffällt, dass es einfacher gewesen wäre, die Unterschiede aufzuzeigen.)

Auch die Rückfahrt im Bus war wieder ein Erlebnis. Es war eng, heiß, alle schwitzten, es stank, klebte, war dreckig. Ich stand im Gang mit meinen Tüten und meiner braunen Umhängetasche und stellte mal wieder fest, welche Vorteile es hat, klein zu sein. Ich versank in Gedanken und legte in meinem Kopf die Reihenfolge fest, in der ich meine Süßigkeiten verspeisen würde, als ich plötzlich heftig angerempelt wurde. Der Fahrscheinverkäufer. Und ich stand wohl im Weg. Er beschimpfte mich, ich verstand natürlich kein Wort. Ich wusste nicht, ob ich vor oder zurück sollte, weil eigentlich keins von beidem möglich war, weil es viel zu eng war und überall Menschen standen. Er brüllte und gestikulierte wild umher, doch ich war einfach überfordert. Dann sah ich eine kleine zierliche Frau die mir ein Handzeichen gab, das ich verstand: ich sollte mich zu ihr setzen. Natürlich war dort eigentlich kein Platz mehr, doch ich hatte ja auch keine Alternative. Also saßen wir mit vier erwachsenen Menschen auf zwei Sitzplätzen. Die Tatsache, dass ich unmöglich entfliehen konnte, weil ich einerseits Angst vor dem Kontrolleur hatte und ich andererseits zwischen den Menschen feststeckte und bewegungsunfähig war, wurde schamlos ausgenutzt. Ich wurde bombardiert mit Fragen! Von mindesten drei Personen gleichzeitig. Bitte nicht falsch verstehen: Sie waren alle unglaublich nett, aber es war nicht einfach für mich, wo mir offensichtlich schon die „Multitasking-Fähigkeit“ fehlt, nun auch noch die „Endlesstasking-Fähigkeit“ an den Tag zu legen. Zwischen allen möglichen Fragen, die ich schon kannte und die sich in aller Regel auf meine Herkunft bezogen und meine Arbeit hier in Indien, stach eine Frage hervor. Es war die nach einem Autogramm von mir. Ich musste lachen und fragte die Frau, ob sie das ernst meint, woraufhin sie energisch bejahte. Nun gut, dachte ich mir, es gibt ja genug Gründe, um von dir ein Autogramm zu wollen! Also nahm ich den Stift, den sie mir reichte und gab zum ersten Mal in meinem Leben ein richtiges Autogramm und das, ohne jemanden dafür zu bezahlen, dass er es nimmt! In diesem Moment fiel nicht nur meine eigene Hemmschwelle, sondern auch die der anderen Menschen im Bus. Ich gab also fünf weitere Autogramme. Dann ging es weiter mit der Bitte um meine Handynummer, die ich allerdings ablehnte und stattdessen „nur“ meine E-Mail-Adresse rausgab.

Trotz all der tollen und beeindruckenden Erfahrungen, war ich froh, am Abend wieder im Heim anzukommen. Alles in allem war es ein guter Tag.

Um langsam zum Schluss zu kommen, hier noch in Stichpunkten, was ich in den letzten Tagen festgestellt oder gelernt habe:

-„Baby Hair Oil“ von Johnson´s ist der letzte Scheiß! Ich wollte gepflegtes, weiches Haar und jetzt ist es einfach nur extrem fettig! Zum Glück hab ich es nur in die Spitzen geschmiert…Naja, immerhin ist jetzt mein Rücken an der Stelle, wo meine Haare sind, wenn ich sie offen trage, samtweich und wie eingecremt!
-Piercings sollte man sich nicht mit einer Pistole stechen lassen, das ist zu gefährlich!

-Coca-Cola gehört die Welt! Die verkaufen hier echt ALLES!

-Die Inder sind nicht gerade geschäftstüchtig: Statt mit der Riksha einfach zweimal zu fahren, wartet man eine halbe Stunde, um sie bis zum letzten Millimeter vollzustopfen. Leider ist das einigen zu lang, sodass sie mit dem Bus fahren. Am Ende ist die Riksha dann nur noch halb voll.
Und:

-Angeblich gibt es in unmittelbarer Nähe unseres Heimes freilebende Elefanten und Tiger! (Ich zu Manasa: „Oh, I wanna see a tiger! Can I go there?“ – Manasa ganz trocken: “Oh, sister, you are so sick!”)

Montag, 17. Oktober 2011

Als Meister Propper das erste Mal alleine in den Kindergarten ging


„Ach komm, die Hose kannst du ruhig noch nen Tag anziehen!“, „Oh nein, ausgerechnet jetzt sehe ich da gaaanz hinten am Horizont eine kleine dunkle Wolke. Wäre ja blöd wenn du dir die Mühe umsonst machst.“, oder auch „So ein Pech, jetzt ist gerade leider kein Eimer für mich frei!“, sind nur drei der etlichen Ausreden, die ich bisher gefunden habe, um das Waschen meiner Klamotten noch ein wenig vor mir herzuschieben. Da die Inder in ihren ganz normalen Klamotten schlafen und hier sowieso jeder weite, dünne Hosen trägt, habe ich es mir sogar schon zur Gewohnheit gemacht, im Schlafanzug rumzulaufen (ihr glaubt ja gar nicht, wie viele Komplimente ich an dem Tag bekommen habe, als ich mich zum ersten Mal im Schlafanzug vor die Tür getraut habe!). 
Doch irgendwann muss man sich eben der Herausforderung stellen, zumal ich eigentlich sogar Spaß am Waschen habe, es fehlt mir nur lediglich manchmal der Antrieb. Heute war es dann jedenfalls endlich wieder so weit, schließlich hatte sich eine Menge in meinem Rucksack, der mir als Wäschebeutel dient, angestaut. Wahrscheinlich war es Übermotivation, die mich auch noch mein Bettlaken und die Decke in den Rucksack stopfen ließ, vielleicht hab ich aber auch einfach unterschätzt, wie schwer so eine Decke sein kann, wenn sie sich mit Wasser vollgesogen hat – kurzum: ich hatte einen blonden Moment.
Voller Elan, mit dem prall gefülltem Rucksack (und der ist ziemlich groß!) und der Kernseife in der Hand, stapfte ich die Treppe hinunter zur Universal-Waschstelle, wo Geschirr, Töpfe, Klamotten und Menschen gewaschen werden. Es gibt zwei Wasserhähne, Eimer und einige Steine, auf denen gewaschen wird. Als angehender Wasch-Profi hab ich natürlich erst einmal meine Wäsche sortiert. Jedoch nicht unbedingt nach Farben, sondern eher nach dem Grad der Verschmutzung und der Gefahr des Abfärbens, denn mittlerweile kenne ich meine Pappenheimer gut genug, um zu wissen, welche von ihnen überempfindlich auf die Behandlung mit der Kernseife reagieren (um das rauszufinden musste ich jedoch schon das ein oder andere Kleidungsstück opfern). Nachdem ich mir mühevoll einen Eimer ergattert hatte, begann die Zeremonie mit dem Einweichen. Dann suchte ich mir einen geeigneten Stein auf dem ich das nasse Kleidungsstück ausbreiten konnte. Eine Karaffe mit Wasser stellte ich neben mich. Ich packte meine Seife aus und fuhr gekonnt immer wieder über den Stoff, nahm hin und wieder die Karaffe, um die Wäsche zu befeuchten, da sonst kein ordentlicher Schaum zustande kommt. Und so rieb ich immer schön mit der Hand auf dem Stein herum. Quasi Rubbellos für Fortgeschrittene. Und als ich an die Rubbellose dachte, hatte ich plötzlich eine Idee. Denn schließlich rubbelt man in der Regel ja nicht mit den Fingern, sondern mit einer Münze. Und dann fiel es mir ein: Ich hatte ja noch diese kleine Handbürste in meinem Kulturbeutel! Ich flitzte hoch in mein Zimmer, schnappte mir die Bürste und probierte es aus. Es funktionierte einwandfrei! Endlich konnte ich die Seife gescheit verteilen, den Schmutz rausbürsten und das, ohne mir die Fingerkuppen halb abzuschleifen! Es war, als hätte ich das Rad neu erfunden!
An einem einzigen Tag entwickelte ich mich vom angehenden Wasch-Profi zu Meister Propper höchstpersönlich. Und dass Meister Propper so muskulös ist kommt nicht von ungefähr: Denn die Sauberkeit der Wäsche steigt proportional zur körperlichen Betätigung. Darüber hinaus zwingt mich die nicht sichergestellte Wasserversorgung zum sparsamen Umgang mit dem kostbaren Element (diese Sparsamkeit werde ich morgen Früh sicher in meinen Armen spüren). Mit offenem Mund beobachte ich regelmäßig die 8-jährigen Mädchen, die mit purer Gewalt die größten Bettlaken auf den Boden schlagen, um sie vom Wasser zu befreien. Natürlich schmunzeln sie über meine Art, zu waschen, geben mir regelmäßig Tipps, die ich zuerst nicht annehmen wollte, allerdings habe ich mittlerweile eingesehen, dass es doch einiges für sich hat, es genau so, und nicht anders zu machen. Und während ich klatschnass rubbel, reibe und schrubbe, hüpfen fünf kleine, nackte Mädchen quietschvergnügt neben mir auf und ab, während die älteren die Töpfe schrubben. Ich werde gefragt wie ich in Deutschland wasche (dass ich es auf eine andere Art als die indische mache, ließ sich nicht verstecken) und ich sage, dass wir eine Waschmaschine haben und dass meiner Mutter für mich wäscht. Sie fragen, ob meine Mama auch die Triple-X-Seife nimmt, dass sei nämlich die beste und ob wir lieber auf den großen Steinen, also im Stehen oder auf den kleinen, also in der Hocke waschen. Mein Versuch, die Funktionsweise einer Waschmaschine zu erklären scheiterte schon daran, dass sie nicht verstanden, wie die Klamotten nass werden können, ohne dass man mit dem Eimer Wasser draufgießt. Mit Weichspüler, Trockner oder Bügeleisen brauchte ich gar nicht erst anzufangen…

Trotz der Strapazen (oder vielleicht gerade deshalb?) macht das Waschen Spaß. Es macht glücklich, wenn man nach vollbrachter Arbeit, die verschrumpelten Hände sieht, sich von oben bis unten mit Schaum eingesaut hat, man weder Rücken, noch Arme beschwerdefrei bewegen kann und vor allem aber das Schmutzwasser, das wirklich richtig schmutzig ist, mit Schwung wegschüttet.
Vom Sortieren bis zum Aufhängen der Wäsche waren zweieinhalb Stunden vergangen. Ich war sehr zufrieden mit meinem Werk und merkte wieder mal, wie typisch deutsch ich doch bin, wenn mir Produktivität und Effizienz so viel Befriedigung verschaffen.

Um mich selbst zu belohnen, aber auch, um mein Käfer-Trauma zu überwinden, beschloss ich, nach Bogaram zu gehen, um mir (ihr werdet es kaum glauben…) Kekse zu beschaffen.
Alma hatte sich gerade hingelegt und da ich ungern wieder mit zwei der Mädchen Kekse kaufen wollte (ist nämlich ein blödes Gefühl, sich vor den neidischen Kinderaugen Süßigkeiten zu kaufen, die diese sich nicht leisten könnten…) beschloss ich mal zu versuchen, alleine (!!!) das Heim zu verlassen, um zum ca. einen Kilometer entfernten Kiosk zu gehen. Bislang wurde mir das nämlich noch nie erlaubt, was bedeutet, dass ich seit nun 36 Tagen nicht einen einzigen Schritt außerhalb des Heimes alleine gelaufen bin. Das hat zu großer Unzufriedenheit geführt, ich habe mich teilweise gefühlt wie ein Vogel im verrosteten Käfig (goldener Käfig wäre dann doch nicht wirklich angebracht).

Doch genauso wenig wie ein Indianer Schmerz kennt, lässt sich Meister Propper den Wind aus den Segeln nehmen. Also ging ich zur Heimleiterin und sagte ganz selbstverständlich, dass ich mal kurz nach Bogaram gehe. Und schwupps! Sie nickte nur und bevor sie es sich anders überlegen konnte, oder nach meiner Begleitung fragen konnte, machte ich mich aus dem Staub.

Mir war gar nicht klar, wie sehr ich es vermisst hatte, alleine durch die Gegend zu laufen! Gleichzeitig fühlte es sich auch ganz neu und aufregend an. Ich, Birte, war endlich alleine unterwegs. Es war das gleiche Gefühl wie damals, als ich zum ersten Mal selbstständig in den Kindergarten ging. Und genauso, wie ich mich damals beim Straßenüberqueren konzentrierte, dachte ich nun daran, die Kordeln meiner Hose zu verstecken (das wirkt wohl angeblich aufreizend) und blickte nach unten, sobald mir Männer entgegenkamen (allerdings hauptsächlich weil ich gar nicht wissen wollte, ob sie mich, oder viel mehr meine Haare, angafften). Ich genoss es durch und durch und bin richtig stolz auf mich! 

Die kleine Birte hat damals im Kindergarten all ihren Freunden berichtet, dass sie zum ersten Mal alleine in den Kindergarten gelaufen ist und die große  Birte lässt nun die ganze Welt wissen, dass sie heute zum ersten Mal alleine nach Bogaram gelaufen ist. Und damit sich der Kreis völlig schließt fehlt nur noch ein Satz: Meister Propper wäre stolz auf mich.

P.S.: An dieser Stelle gebührt meiner Oma Gisela ein großer Dank für die Unterhosen, die ich regelmäßig zu Ostern und zum Nikolaus bekommen habe und die sich nicht in erster Linie für ihr ansprechendes Äußeres, dafür aber für den sehr hohen Tragekomfort auszeichnen: Es sind die einzigen Kleidungsstücke, denen das Waschen auf dem Stein nichts auszumachen scheint (wer hätte gedacht, dass ich „Sippel&Benzin“ in diesem Leben nochmal was Positiven abgewinnen werde?)!