Montag, 12. Dezember 2011

Von hinten bis vorne


Heute, 12:23 Uhr:


Durga Bhavani verzieht das Gesicht. Angewidert. Die Mundwinkel hängen dabei fast tiefer als das Kinn lang ist. Sie stöhnt genervt auf, greift dann zielsicher auf das runde Stück Metall, nimmt eine bunte, zusammenklebende Masse in die Hand und schiebt diese rüber zu Ashwini, die sich gerade angeregt mit Lalitha unterhält und dabei wild gestikuliert. Um ein Haar schlägt sie Durga Bhavani das Stück aus der Hand als sie nach oben zeigt. Das macht Ashwini stutzig. Sie blickt nach unten und  sofort macht sich Entsetzen in ihr breit. Alles an ihrem Körper wehrt sich dagegen, dieses Geschenk anzunehmen. Auch Lalitha hat die Lage erkannt und will ihrer besten Freundin in diesem schwierigen Moment beistehen. Von tiefer innerer Verbundenheit geleitet wagt sie sich, das Stück nun auch in die Hand zu nehmen, um Ashwini von ihrer Qual zu erlösen. Innerhalb von Sekundenbruchteilen wird das Stück nun zu Laxmi befördert. Verdammt was nun? Alle Tricks, das harte Los irgendwie abzuwehren, sei es durch schnelle Reaktionen mit den Händen oder die Solidarität der besten Freundin, scheinen aussichtslos.

Oder etwa nicht?

 Tränen steigen in Laxmis Augen. Das Mädchen mit der höchsten Stimme fängt an, herzzerreißend zu weinen. Das ist kein Weinen, das ertönt, wenn ein Kind hingefallen ist und sich verletzt hat, nicht so als hätte man ihm sein Lieblings-Spielzeug weggenommen. Nein, das Weinen, das aus Laxmis Kehle erklingt, durchfährt Mark und Bein, denn es ist ein Weinen, als hätte ihre Mutter vergessen, sie aus dem Kindergarten abzuholen. „Chinnar-Akka!!!“, brüllt sie los. Diese stürmt herbei um ihrer kleinen Schwester zu helfen. Als hätte sie bereits geahnt, was sie erwartet, springt Anusha hektisch auf, klettert auf die Arbeitsplatte und hält ihre Metallschüssel so hoch wie sie nur kann. Doch es hilft nichts. Chinnari hält das bunte Etwas längst in ihren Händen, erklimmt ebenfalls die Arbeitsplatte und schmeißt es mit aller Wucht in Anushas Schüssel. In diesem Moment betritt Sana die Küche und Anusha erkennt, dass dies ihre Gunst der Stunde ist, denn jene hatte schon längst alles zurechtgestellt, war aber noch etwa 5 Meter davon entfernt. Jetzt oder nie! Sie greift nach dem klebrigen Stück und schiebt es Sana unter, die von dieser Aktion nichts mitbekommen zu haben schien. Aufatmen auf allen Seiten.

„Chiiiiii!!!!“, quietscht Sana, als sie erblickt, was vor ihr liegt.
Ein langer Monolog beginnt, indem immer wieder Ausdrücke des Ekels und das Wort „sister“ vorkommen. Ein Lächeln huscht mir über die Lippen. Ich muss kichern. Jyoshna sieht schockiert zu mir auf und realisiert, dass ich seit 2 Minuten unbemerkt im Türrahmen stand und die ganze Szene beobachtet hatte. „Siiiiiiiister!!!“
Schimpfen, Schläge auf den Hinterkopf der Mädchen und aggressives Gestikulieren sind die Folgen meiner Erscheinung.

„So nice, sister!“, sagen schließlich alle im Chor und grinsen mich dabei an.



Gestern, 20:26 Uhr:


Mit noch leicht nassen Haaren und sehr trockenem Humor sitze ich auf dem Boden, blicke von einem Mädchen zum anderen und muss lachen. Der Anblick der sich mir bietet sagt alles, obwohl um mich herum völlige Stille herrscht. Zwischen den Blickwechseln der Mädchen, stehen keine Sätze sondern ganze Romane, die solche Überschriften wie „Als ich das Wasser trinken musste, indem meine Großmutter ihr Gebiss gewaschen hat“, „Wie ich die Haltegriffe der Berliner U-Bahn ableckte“, oder „Nacktbaden im New Yorker Abwasser“, tragen könnten. Unbeeindruckt führe ich meine rechte Hand zum Mund. Wäre das schweigsame Spektakel um mich herum nur halb so interessant, ich würde vor Genuss die Augen schließen. Ich blicke rüber zu Alma und wir beschließen, aufzustehen und zu gehen, die Situation dem Schicksal zu überlassen, oder einfach dem menschlichen Instinkt. Wir gehen durch die Tür nach draußen. „So nice, sister!“, ertönt es gleich aus mehreren Hälsen. Ich lache.



Gestern, 18: 17 Uhr:


Frisch geduscht und voller Elan greife ich nach dem Messer und beginne die Tat, die mich noch etwa zwei Stunden lang beschäftigen sollte. Viele Gedanken hatten wir uns gemacht, zumindest was Menge und Art betraf. Nun bin ich fest davon überzeugt, dass es ein Erfolg wird. Alles andere würde die Zerstörung meines Weltbildes bedeuten, oder zumindest einem starken Rütteln daran gleichkommen. Die Musik im Hintergrund macht die Arbeit erträglich. Ständig versuchen Mädchen, zu erspähen, was sie erwartet, doch die Türen sind verschlossen und der Schutzwall errichtet.
„Und??“, frage ich Alma erwartungsvoll. Sie nickt zufrieden und entgegnet „Also ich finds gut!“
Es klopft an der Tür. Ich öffne sie und erblicke Nagomanie, die höflich um Einlass bittet, um etwas zu trinken. Sie kommt rein, zeigt auf den Boden und sagt: „So nice, sister!“
Diese Bestätigung hätte ich nicht mehr gebraucht, denke ich mir.



Donnerstag, 10:53 Uhr:


„Also ich hätte mir 10 kg irgendwie schwerer vorgestellt!“, sagt Alma, die den Sack auf dem Rücken trägt. Ich laufe neben ihr, halte zwei prall gefüllte Taschen in den Händen und stöhne auf. Es ist zu warm und zu beschwerlich, diese elende Schlepperei.



Vor etwa 2 Wochen:


„Also machen wir jetzt Nudeln mit Tomatensoße??“, frage ich und bekomme eine bestätigende Antwort.



Heute, 14: 49:


Ja, so war das gestern. Wir wollten den Mädchen einen Einblick in die deutsche Kultur bieten und wo lernt man eine Kultur besser und schneller kennen als beim Essen? Also beschlossen wir, aus den geringen Möglichkeiten, hier was typisch Deutsches zu kochen, das Beste zu machen. Wir besorgten 10 Kilo Nudeln und 5 Kilo Tomaten, Zwiebeln und Knoblauch. Und, da uns die Tomatensoße zu teuer war, noch 4 Liter Ketchup. Wir zauberten ein wirklich leckeres Gericht, auch wenn das kaum vorstellbar ist, angesichts der Alternative für die Tomatensoße (allerdings haben wir dafür immerhin bunte Nudeln gekauft!).
Es war eine Katastrophe. Niemandem hat unser Essen geschmeckt (von Alma und mir selbst mal abgesehen)! Aus „Wann gibt’s endlich Essen, ich hab totalen Hunger?!“ wurde „Nee, lieber nicht so viel, ich bin heute nicht so hungrig!“, und aus meiner Ankündigung „Wir machen echtes deutsches Essen für euch!“ wurde ein rechtfertigendes „Naja, das ist eigentlich kein deutsches, sondern italienisches Essen…“.

Heute sollten dann die Reste gegessen werden, was unter elender Qual, unter Tränen und Schlägen dann auch widerwillig geschah.

Auch wenn die Geschichte keine Moral hat und ich nicht weiß, ob und was wir falsch gemacht haben, so bleibt mir doch ein Satz immer im Ohr: „So nice, sister!“

„Ja, ich weiß!“, denke ich mir jetzt und lächle zufrieden.



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