Teil 1: „Privacy? What the hell is privacy?!“
Tag 15: Tiefpunkt. Der einzige Grund, warum ich nicht mehr weine ist der, dass weinen meinen Zustand nur noch verschlechtern würde. Das habe ich vor etwa einer Stunde feststellen müssen… Am liebsten würde ich mich irgendwo ausheulen, aber die Gewissheit, dass mich das letztlich nicht weiterbringen würde und das Wissen, dass ich mir nur selbst helfen kann, lassen mich weder das Handy, noch den Laptop in die Hand nehmen. Stattdessen schreibe ich mit Bleistift in mein Lederbuch, für den Fall, dass ich, sobald ich dieses Tief überwunden habe, diese Worte ebenso von diesem Blatt radieren kann, wie ich auch diesen Tag hoffentlich irgendwann aus meinen Erinnerungen streichen kann.
Es sollte ein Ausflug sein. Schließlich sind Ferien und die meisten Mädchen aus dem Heim bei ihren Familie. Wir sollten heute für eine Stunde Tanzunterricht bekommen und bislang ist dies das einzige Vorhaben, das in die Tat umgesetzt wurde. Um sieben Uhr morgens sollte uns (20 Kinder, Alma und mich) ein Auto abholen. Fünf Minuten vor der geplanten Abreise fanden wir dann durch einen Zufall heraus, dass dieser Ausflug acht Tage dauern sollte. Also stürmten wir in unser Zimmer und packten schnell einige Klamotten zusammen. Zum ersten Mal war ich froh darüber, dass sich hier prinzipiell alles verzögert… Gegen kurz vor acht ging es dann also los: 22 Menschen mit Gepäck plus Fahrer in einem (!) Geländewagen. Nachdem sich zwei Kinder während der Fahrt übergeben haben, kamen wir in einem weiteren Kinderheim, in der Nähe von Tarnaka, an, wo uns bereits etliche Kinder gespannt erwarteten. Es ist ein hässliches Heim. Das (Gemeinschafts-)Bad ist dreckig, der Boden überflutet. Es gibt hier keine Betten, wohl deshalb, weil die Räume tagsüber als Klassenzimmer fungieren. Nach einer Stunde tanzen und einem Vortrag unserer Chefin auf Telugu wurden Alma und ich mit den 95 Kindern, einer Köchin, die kein Englisch kann, und dem Ratschlag, wir sollten ihnen doch ein paar Lieder und Spiele und am besten auch noch Englisch beibringen, alleine gelassen. Es gibt drei Zimmer: In einem steht der Fernseher, im anderen wird getanzt und im dritten schlafen wir. Alle zusammen. Auf dem Boden. Und dabei wollten wir uns heute, nach 14 Tagen ununterbrochen von einer Horde Kindern begleitet und das 24 Stunden täglich, unseren ersten freien Tag nehmen.
Ich bin ein nervliches Wrack! Und ich will endlich mal für mich alleine sein, Stille genießen.
Doch manchmal muss man sich mit bestimmten Situationen und Gegebenheiten abfinden, sonst geht man früher oder später an dem Versuch, das Unmögliche möglich zu machen, zugrunde. Und noch sind mein Wille, mein Eifer, aber vor allem meine Überzeugung, das Richtige zu tun, zu groß, um mich unterkriegen zu lassen. Ja, ich habe geweint, als ich feststellte, dass ich an meine Grenzen stoße und das früher als gedacht. Ja, natürlich hat mir die Ausrede, meine Augen seien lediglich überempfindlich was den Deckenventilator betrifft, irgendwann niemand mehr abgenommen. Aber was hätte ich tun sollen?? 95 Kinder und 3 Räume, da ist man nie alleine und selbst die Toilette kann man nicht abschließen… Selbst wenn ich hier auf dem Steinfußboden liege und diese Worte schreibe, blicken mir stets drei Kinder über die Schulter.
Ich muss lernen, meine Tränen zu unterdrücken, daran führt hier kein Weg vorbei. Denn spätestens mit den ersten Tränen stand ich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und genau dort, wo ich als letztes sein wollte: Im Rampenlicht.
Sie verstehen es nicht, es ist fernab ihrer Vorstellungskraft, wenn man sagt, dass man mal kurz für sich allein sein will. Das frustriert. Ich laufe und laufe in der Annahme, bald den Horizont erreicht zu haben, doch dann stellt sich heraus, dass ich nur ein Hamster im Rad bin.
Ich habe geflucht, ich habe beleidigt, ich habe den Kindern böse Schimpfwörter an den Kopf geworfen – natürlich alles auf Deutsch. Doch es ist vergeblich. Je mehr ich versuche, die ständigen „SISTER!SISTER!“-Rufe zu ignorieren, desto lauter werden sie…
Also gebe ich vor, dass alles in Ordnung sei und lasse zum Beweis ein Foto von mir schießen auf dem ich breit grinse.
Teil 2: „Blutverschmierte Füße“
Selbstmitleid ist grauenvoll. Dennoch haftet es an mir wie ein gutes Hansaplast. Und da ich ein Schisser bin und überaus schmerzempfindlich, traue ich mich nicht, es mit einem Ruck abzuziehen. Mein verwöhnter deutsche Hintern ist es nicht gewohnt, den ganzen Tag auf dem Steinfußboden zu sitzen, genauso wie auch der Rest meines Körpers an mein weiches, gefedertes Bett gewohnt, nicht ohne diverse Gliederschmerzen auf eben diesem Fußboden schlafen kann. Außerdem war der Deckenventilator zu laut und zu stark (wo bleibt der Stromausfall wenn man ihn mal braucht?!), sodass meine Klamotten nach kurzer Zeit von nassem Schweiß durchtränkt waren. Und plötzlich hatte ich unheimliche Bauchschmerzen und mir war schlecht (wahrscheinlich, so denke ich im Nachhinein, war das wohl nur Placebo). Deshalb bin ich aufgestanden. Und auch um (und jetzt kommt es noch schlimmer!) mich auszuheulen.
Das Resultat? Ich habe mich getäuscht, es hilft doch. Es tut gut. Es kommt auf die Dosierung an. Und so saß ich da. Alleine (endlich!) auf der Treppe im Dunkeln vor meinem Laptop. Das heißt: Wirklich alleine war ich in keinster Weise. Denn ich war umringt von nicht weniger als 150 Mücken, schließlich war bei mir die einzige Lichtquelle weit und breit. Ich hab meine Mordlust ausleben können und keine Gnade walten lassen, was mich irgendwo befriedigte. Das Spektakel endete mit einem leeren Laptop-Akku und meinen blutverschmierten Füßen, die ich noch stolz als Trophäe ins Bad führte, bevor ich sie reinigte und dann einschlief.
Teil 3: Kapitulation
Ich wusste natürlich vorher, dass ich früher oder später an meine Grenzen stoßen werde. Allerdings bin ich immer davon ausgegangen, dass dies eher später als früher eintreten wird. Tja, Pustekuchen. Es ist deprimierend und befreiend zu gleich. Jetzt sitze ich in meinem Heim, in meinem Zimmer in meinem Bett. Und zwar alleine, denn Alma hat sich entschlossen, die Woche über bei den anderen Kindern zu bleiben, was meinen größten Respekt verdient. Ich muss meine Aussage vom Anfang widerrufen: Man geht nicht an den Dingen zugrunde, die man nicht ändern kann, sondern daran, veränderbare Umstände dennoch zu akzeptieren, auch wenn sie einen unglücklich machen. Ich bin hier um zu wachsen und nicht um zu zeigen, wie groß ich bereits bin.