KULTURSCHOCK! Das ist das erste was meinem Hirn einfällt, als die Türen unseres vollgestopften Autos endlich aufplatzen und wir hinaus können. Und dieser Gedanke, dieses Stichwort, das sich in jede Zelle eingenistet hatte, ist nicht nur einfach so da, wie eine Botschaft auf einem weißen Zettel der da irgendwo im Chaos meines Gehirns rumliegt, sondern steht auf großen bunten Luftballons geschrieben, die von Konfettimassen abgeschossen werden während dazu David Hasselhoff im Superman-Anzug auf einer großen rosa Wolke „I´ve been looking for freedom“ singt und auf dem Kopf einen Bauarbeiterhelm mit roten Alarmglocken trägt, die ununterbrochen dieses nervtötende Geräusch ausstoßen. Sprich: Es ist nicht schön, aber ich kann es auch nicht ignorieren.
Der Anblick, der sich meinen Augen bietet, nein, aufdrängt, wird euch möglicherweise lächerlich erscheinen, aber mich zieht er mit aller Gewalt in den Kulturschock-Topf, wie einen Hummer, der lebend gekocht wird, und was dabei rauskommt ist eine undefinierbare Grütze aus „ich-weiß-ich-bin-eine-typische-Westlerin-möchte-mich-aber-auf-die-indische-Kultur-einlassen-merke-jedoch-gerade-dass-ich-genau-von-den-Menschen-angewidert-bin-zu-denen-ich-mich-vor-kurzer-Zeit –noch-selbst-gezählt-hätte-die-ich-aber-seit-ich-hier-lebe-zwangsläufig-völlig-vermieden-habe-und-jetzt-erst-merke-wie-viele-Welten-es-in-einer-einzigen-doch-gibt-was-dazu-führt-dass-ich-völlig-überfordert-mit-der-Gesamtsituation-bin“ und (damit verbundene) unendliche Scham.
Es ist Sonntag und wir fahren auf eine Veranstaltung eines Tanzstudios. Etwa 20 Gruppen verschiedener Altersgruppen stellen dort einmal im Jahr ihre einstudierten Tänze vor, die sie von professionellen Tänzern gezeigt bekommen. Auch einigen Mädchen aus dem Heim wurde diese Ehre zum ersten Mal zuteil.
Ich bin sehr froh darüber, euch bereits einen Einblick in die kleine beschauliche Heim-Welt geboten zu haben, die nur aus Frauen besteht, da er die Voraussetzung dafür ist, zu verstehen, warum ich so schockiert war. Tradition und Kultur wird hier extrem groß geschrieben (Alma hat mir jetzt von einem unserer Mädchen erzählt, dass nicht von der Toilette kommen wollte, weil sie ihren Schal draußen vergessen hatte und noch ein männlicher Mitarbeiter von unserer Organisation im Gebäude war. Sie konnte unmöglich ohne diesen Schal, der ihren ohnehin vor Klamotten kaum sichtbaren Hals verdeckt, vor einen Mann treten.).
Wie geht man jetzt damit um, wenn man, vorfreudig auf den bevorstehenden Tanzauftritt, aus dem Auto steigt, dass uns fast zwei Stunden nach Hyderabad gefahren hat, und das erste was man sieht sind 12jährige Mädchen in roten Glitzer-Hotpants?
Ich tue nichts, schweige erschrocken vor mich hin und lutsche ein Karamellbonbon.
Stumm gehen wir in das riesige, extrem prunkvolle Gebäude, das direkt neben einem „Kentucky Fried Chicken“ aus der indischen Erde hervorragt. An den Toren sind Wächter in Uniformen, der Rasen ist gleichmäßig geschnitten, die große Treppe glänzt in der Sonne. Doch all das ist nichts im Vergleich zu dem Anblick, den die Menschen dort abgeben. Sie sind genauso weiß wie ich, haben alle schicke, westliche Klamotten an, die Kinder halten sich schüchtern an den Händen eines Elternteils fest, tragen mindestens jeweils ein Glitzer-Kleidungstück , sodass sie einer Disco-Kugel in nichts nachstehen. Sie essen Chips oder Schokolade von Marken, die ich alle kenne, trinken Cola, fotografieren sich gegenseitig mit dem Smartphone oder einer Kamera. Und zwischen all diesen Menschen sitzen wir, die Mädchen aus dem Heim und zwei völlig verwirrte Freiwillige. Wie immer hatten sich die Mädchen so schön gemacht, wie sie nur konnten, hatten aufwendige Frisuren, all ihren Schmuck und ihre schönsten, frisch gewaschenen Klamotten an – doch es scheint nicht zu reichen. Sie können nicht mit Hotpants und pinken Pailletten-Westen mithalten. Die Stimmung ist auf dem Tiefpunkt.
Sie tun mir so leid, sitzen da, der bunte Haufen wunderschöner Mädchen, der sich so schäbig fühlt zwischen all den kleinen verzogenen Bonzen-Kindern. Noch nie zuvor habe ich in Indien so wenig Aufmerksamkeit bekommen, wie an diesem Ort. Westliche Frauen scheinen keine große Besonderheit zu sein bei den Mitgliedern der oberen Kaste, die zu allem Überfluss teilweise besser Englisch sprechen als ich (ob das schwierig ist oder nicht lass ich jetzt mal so im Raum stehen).
Es gibt in diesem Moment nichts was ich tun kann und das Wissen darüber kränkt mich ungemein.
Mir wird klar, in welcher schönen, allerdings völlig utopischen Scheinwelt die Mädchen hier im Heim leben. Denn genauso wenig, wie es eine Welt ohne Männer gibt, sind alle „Indian boys dirty“.
Wenn sie ihre romantischen Filme gucken und anschließend ganz verträumt die ausgeschnittenen Bilder ihrer „heroes“ aus der Zeitung bestaunen, wenn sie meine leere Duschgelflasche aus dem Müll ziehen und diese aufbewahren wie einen Schatz, weil sie so schön riecht, wenn sie anfangen, wie blöd zu kichern, wenn ihr Lehrer vorbeikommt um sie Vokabeln abzufragen, wenn sie ganz stolz darauf sind, neuen Schmuck zu tragen, wie sie sich freuen, wenn es in der Schule ein gekochtes Ei zum Mittag gibt, wie sie schnell umschalten, wenn eine Liebesszene im Fernsehen zu sehen ist – sie sind einfach so unglaublich unschuldig. Die Welt, aus der auch ich komme, kennen sie nur aus dem Fernsehen. Sie ahnen nicht, und das hab ich zu meiner Schande übrigens noch viel weniger geahnt, dass die Welt hinter der Mattscheibe nur zwei Stunden von ihnen entfernt Realität wird.
Es ist ein beklemmendes Gefühl. Und gleichzeitig spüre ich, wie sehr ich mich innerlich dagegen weigere, mich zu den reichen, weißen, West-Indern zu zählen. Stattdessen empfinde ich so viel Loyalität und Verbundenheit mit den Heim-Mädchen wie nie zuvor.
Und dann denke ich an die Vorgeschichte einiger Mädchen, die in der Regel missbraucht wurden, oft sexuell.
Und im nächsten Moment, als wir unsere Sitze in der letzten Reihe der Halle mit riesiger, beleuchteter Bühne zugewiesen bekommen und der erste Tanz beginnt, sehen meine Augen, wie Mädchen ihren 12jährigen roten Glitzerpo am Schoß eines Gleichaltrigen reiben während im Hintergrund Pitbulls „I know you want me“ läuft. Hätte auch ich an diesem Tag einen Schal getragen, ich hätte ihn mir am liebsten über die Augen gezogen.
Die Stimmung wird immer schlechter, die Mädchen sagen, dass sie es hier nicht mögen, die Mienen verfinstern sich, ich denke zurück an die Hinfahrt auf der durchgängig gesungen und gelacht wurde. Ich habe Angst um sie, was völlig bescheuert klingen mag. Diese große beeindruckende Bühne, die Lichter, all die Fremden…
Je mehr Tänze wir sehen, desto mehr schämen sie sich, so habe ich den Eindruck. Dann werden sie von einer Tanzlehrerin abgeholt. Verdammt. Genau jetzt muss ich aufs Klo! Ach, das schaff ich noch, denke ich und düse los. Stolz darüber, wie schnell ich die Toiletten gefunden hatte, komme ich wieder aus der Tür heraus als ich plötzlich DAS Lied höre. Ich stürme in den unteren Abschnitt der Sitzplätze, wo die ganzen Eltern stehen, bahne mir achtlos einen Weg durch die Menschenmassen, drängle mich an der arroganten Elite Hyderabads vorbei bis ich sie endlich sehe. Da stehen sie, der bunte Haufen wunderschöner Mädchen. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Ich sehe sie tanzen und sehe, wie sie in ihren traditionellen Kleidern, ihren Flechtzöpfen und ihren Stickern auf der Stirn ganz ohne Arschgewackel dem gesamten Saal den symbolischen Mittelfinger zeigen. Auch wenn ich mir dem Verlust meiner Objektivität völlig bewusst bin: Sie sind die Besten!
Ich spüre, wie mir Tränen die Wangen runterlaufen und zum ersten Mal habe ich eine Vorstellung davon, wie es für eine Mutter sein muss, wenn sie ihr eigenes Kind in einem solchen Moment sieht. Ich bin so unendlich stolz auf sie! Unter dem lauten Applaus tippt mich ein junger Mann an und fragt ob alles ok ist.
„Yes, I´m fine! It´s just…they are MY girls!”
Uff, dieser Satz sitzt. Mitten in meinem Herzen. Und mal ehrlich: Da ist Patrick Swayzes „Mein Baby gehört zu mir, ist das klar?!“ am Ende von Dirty Dancing ja wohl ein Scheißdreck gegen!
Als meine Mädchen dann zurück zu ihren Plätzen kommen, ist die Stimmung eine völlig andere und nicht mehr zu vergleichen mit der vorherigen: Sie strahlen, toben, tanzen, sind erleichtert, befreit und überglücklich! Es ist traumhaft!
Auf dem Rückweg dann schlafen alle Mädchen erschöpft und zufrieden ein (die können echt bei JEDER Bedingung schlafen!). Nur Durga, ein sechzehnjähriges Mädchen behält die Augen offen und blickt aus dem Fenster. Sie kommt aus Hyderabad und ihre Familie wohnt ganz in der Nähe des riesigen Gebäudes in dem wir waren, was mitten auf der westlichen Einkaufsmeile der Stadt steht. Sie sieht in die großen Läden von Levi´s, Pizza Hut und adidas hinein. Auch unzählige Juweliere haben dort ein großes Geschäft. Ich blicke mich um in der unterbewussten Gewissheit, dass ich in jeden dieser Läden reinspazieren kann, vorbei an der Security, mich ganz normal umsehen kann ohne dabei schief angesehen zu werden. Und das wohl allein deshalb, weil ich weiß bin. Durga hingegen wird wohl nie einen dieser Läden von innen sehen, die von außen mit langen Lichterketten verziert sind und so anziehend und verlockend sind. Wieder habe ich ein komisches Gefühl. Doch wie fast jeder Mensch kann ich diese komischen Gedanken gut ignorieren, mein Gewissen abstellen.
Und so kam es, dass ich am nächsten Tag in eben dieser Einkaufsmeile in sämtliche Läden reinspaziert bin. Doch das ist eine andere Geschichte…