Mittwoch, 30. November 2011

Meine Mädchen, meine Kaste, mein Gewissen



KULTURSCHOCK! Das ist das erste was meinem Hirn einfällt, als die Türen unseres vollgestopften Autos endlich aufplatzen und wir hinaus können. Und dieser Gedanke, dieses Stichwort, das sich in jede Zelle eingenistet hatte, ist nicht nur einfach so da, wie eine Botschaft auf einem weißen Zettel der da irgendwo im Chaos meines Gehirns rumliegt, sondern steht auf großen bunten Luftballons geschrieben, die von Konfettimassen abgeschossen werden während dazu David Hasselhoff im Superman-Anzug auf einer großen rosa Wolke „I´ve been looking for freedom“ singt und auf dem Kopf einen Bauarbeiterhelm mit roten Alarmglocken trägt, die ununterbrochen dieses nervtötende Geräusch ausstoßen. Sprich: Es ist nicht schön, aber ich kann es auch nicht ignorieren.

Der Anblick, der sich meinen Augen bietet, nein, aufdrängt, wird euch möglicherweise lächerlich erscheinen, aber mich zieht er mit aller Gewalt in den Kulturschock-Topf, wie einen Hummer, der lebend gekocht wird, und was dabei rauskommt ist eine undefinierbare Grütze aus „ich-weiß-ich-bin-eine-typische-Westlerin-möchte-mich-aber-auf-die-indische-Kultur-einlassen-merke-jedoch-gerade-dass-ich-genau-von-den-Menschen-angewidert-bin-zu-denen-ich-mich-vor-kurzer-Zeit –noch-selbst-gezählt-hätte-die-ich-aber-seit-ich-hier-lebe-zwangsläufig-völlig-vermieden-habe-und-jetzt-erst-merke-wie-viele-Welten-es-in-einer-einzigen-doch-gibt-was-dazu-führt-dass-ich-völlig-überfordert-mit-der-Gesamtsituation-bin“ und (damit verbundene) unendliche Scham.

Es ist Sonntag und wir fahren auf eine Veranstaltung eines Tanzstudios. Etwa 20 Gruppen verschiedener Altersgruppen stellen dort einmal im Jahr ihre einstudierten Tänze vor, die sie von professionellen Tänzern gezeigt bekommen. Auch einigen Mädchen aus dem Heim wurde diese Ehre zum ersten Mal zuteil.

Ich bin sehr froh darüber, euch bereits einen Einblick in die kleine beschauliche Heim-Welt geboten zu haben, die nur aus Frauen besteht, da er die Voraussetzung dafür ist, zu verstehen, warum ich so schockiert war. Tradition und Kultur wird hier extrem groß geschrieben (Alma hat mir jetzt von einem unserer Mädchen erzählt, dass nicht von der Toilette kommen wollte, weil sie ihren Schal draußen vergessen hatte und noch ein männlicher Mitarbeiter von unserer Organisation im Gebäude war. Sie konnte unmöglich ohne diesen Schal, der ihren ohnehin vor Klamotten kaum sichtbaren Hals verdeckt, vor einen Mann treten.).

Wie geht man jetzt damit um, wenn man, vorfreudig auf den bevorstehenden  Tanzauftritt, aus dem Auto steigt, dass uns fast zwei Stunden nach Hyderabad gefahren hat, und das erste was man sieht sind 12jährige Mädchen in roten Glitzer-Hotpants?

Ich tue nichts, schweige erschrocken vor mich hin und lutsche ein Karamellbonbon.
Stumm gehen wir in das riesige, extrem prunkvolle Gebäude, das direkt neben einem „Kentucky Fried Chicken“ aus der indischen Erde hervorragt. An den Toren sind Wächter in Uniformen, der Rasen ist gleichmäßig geschnitten, die große Treppe glänzt in der Sonne. Doch all das ist nichts im Vergleich zu dem Anblick, den die Menschen dort abgeben. Sie sind genauso weiß wie ich, haben alle schicke, westliche Klamotten an, die Kinder halten sich schüchtern an den Händen eines Elternteils fest, tragen  mindestens jeweils ein Glitzer-Kleidungstück , sodass sie einer Disco-Kugel in nichts nachstehen. Sie essen Chips oder Schokolade von Marken, die ich alle kenne, trinken Cola, fotografieren sich gegenseitig mit dem Smartphone oder einer Kamera. Und zwischen all diesen Menschen sitzen wir, die Mädchen aus dem Heim und zwei völlig verwirrte Freiwillige. Wie immer hatten sich die Mädchen so schön gemacht, wie sie nur konnten, hatten aufwendige Frisuren, all ihren Schmuck und ihre schönsten, frisch gewaschenen Klamotten an – doch es scheint nicht zu reichen. Sie können nicht mit Hotpants und pinken Pailletten-Westen mithalten. Die Stimmung ist auf dem Tiefpunkt.

 Sie tun mir so leid, sitzen da, der bunte Haufen wunderschöner Mädchen, der sich so schäbig fühlt zwischen all den kleinen verzogenen Bonzen-Kindern. Noch nie zuvor habe ich in Indien so wenig Aufmerksamkeit bekommen, wie an diesem Ort. Westliche Frauen scheinen keine große Besonderheit zu sein bei den Mitgliedern der oberen Kaste, die zu allem Überfluss teilweise besser Englisch sprechen als ich (ob das schwierig ist oder nicht lass ich jetzt mal so im Raum stehen).

Es gibt in diesem Moment nichts was ich tun kann und das Wissen darüber kränkt mich ungemein.

Mir wird klar, in welcher schönen, allerdings völlig utopischen Scheinwelt die Mädchen hier im Heim leben. Denn genauso wenig, wie es eine Welt ohne Männer gibt, sind alle „Indian boys dirty“.

Wenn sie ihre romantischen Filme gucken und anschließend ganz verträumt die ausgeschnittenen Bilder ihrer „heroes“ aus der Zeitung bestaunen, wenn sie meine leere Duschgelflasche aus dem Müll ziehen und diese aufbewahren wie einen Schatz, weil sie so schön riecht, wenn sie anfangen, wie blöd zu kichern, wenn ihr Lehrer vorbeikommt um sie Vokabeln abzufragen, wenn sie ganz stolz darauf sind, neuen Schmuck zu tragen, wie sie sich freuen, wenn es in der Schule ein gekochtes Ei zum Mittag gibt, wie sie schnell umschalten, wenn eine Liebesszene im Fernsehen zu sehen ist – sie sind einfach so unglaublich unschuldig. Die Welt, aus der auch ich komme, kennen sie nur aus dem Fernsehen. Sie ahnen nicht, und das hab ich zu meiner Schande übrigens noch viel weniger geahnt, dass die Welt hinter der Mattscheibe nur zwei Stunden von ihnen entfernt Realität wird.

 Es ist ein beklemmendes Gefühl. Und gleichzeitig spüre ich, wie sehr ich mich innerlich dagegen weigere, mich zu den reichen, weißen, West-Indern zu zählen. Stattdessen empfinde ich  so viel Loyalität und Verbundenheit mit den Heim-Mädchen wie nie zuvor.

Und dann denke ich an die Vorgeschichte einiger Mädchen, die in der Regel missbraucht wurden, oft sexuell.

Und im nächsten Moment, als wir unsere Sitze in der letzten Reihe der Halle mit riesiger, beleuchteter Bühne zugewiesen bekommen und der erste Tanz beginnt, sehen meine Augen, wie Mädchen ihren 12jährigen roten Glitzerpo am Schoß eines Gleichaltrigen reiben während im Hintergrund Pitbulls „I know you want me“ läuft. Hätte auch ich an diesem Tag einen Schal getragen, ich hätte ihn mir am liebsten über die Augen gezogen.
Die Stimmung wird immer schlechter, die Mädchen sagen, dass sie es hier nicht mögen, die Mienen verfinstern sich, ich denke zurück an die Hinfahrt auf der durchgängig gesungen und gelacht wurde. Ich habe Angst um sie, was völlig bescheuert klingen mag. Diese große beeindruckende Bühne, die Lichter, all die Fremden…

Je mehr Tänze wir sehen, desto mehr schämen sie sich, so habe ich den Eindruck. Dann werden sie von einer Tanzlehrerin abgeholt. Verdammt. Genau jetzt muss ich aufs Klo! Ach, das schaff ich noch, denke ich und düse los. Stolz darüber, wie schnell ich die Toiletten gefunden hatte, komme ich wieder aus der Tür heraus als ich plötzlich DAS Lied höre. Ich stürme in den unteren Abschnitt der Sitzplätze, wo die ganzen Eltern stehen, bahne mir achtlos einen Weg durch die Menschenmassen, drängle mich an der arroganten Elite Hyderabads vorbei bis ich sie endlich sehe. Da stehen sie, der bunte Haufen wunderschöner Mädchen. Mein Herz schlägt bis zum Hals. Ich sehe sie tanzen und sehe, wie sie in ihren traditionellen Kleidern, ihren Flechtzöpfen und ihren Stickern auf der Stirn ganz ohne Arschgewackel dem gesamten Saal den symbolischen Mittelfinger zeigen. Auch wenn ich mir dem Verlust meiner Objektivität völlig bewusst bin: Sie sind die Besten!
Ich spüre, wie mir Tränen die Wangen runterlaufen und zum ersten Mal habe ich eine Vorstellung davon, wie es für eine Mutter sein muss, wenn sie ihr eigenes Kind in einem solchen Moment sieht. Ich bin so unendlich stolz auf sie! Unter dem lauten Applaus tippt mich ein junger Mann an und fragt ob alles ok ist.

„Yes, I´m fine! It´s just…they are MY girls!”

Uff, dieser Satz sitzt. Mitten in meinem Herzen. Und mal ehrlich: Da ist Patrick Swayzes „Mein Baby gehört zu mir, ist das klar?!“ am Ende von Dirty Dancing ja wohl ein Scheißdreck gegen!
Als meine Mädchen dann zurück zu ihren Plätzen kommen, ist die Stimmung eine völlig andere und nicht mehr zu vergleichen mit der vorherigen: Sie strahlen, toben, tanzen, sind erleichtert, befreit und überglücklich! Es ist traumhaft!

Auf dem Rückweg dann schlafen alle Mädchen erschöpft und zufrieden ein (die können echt bei JEDER Bedingung schlafen!). Nur Durga, ein sechzehnjähriges Mädchen behält die Augen offen und blickt aus dem Fenster. Sie kommt aus Hyderabad und ihre Familie wohnt ganz in der Nähe des riesigen Gebäudes in dem wir waren, was mitten auf der westlichen Einkaufsmeile der Stadt steht. Sie sieht in die großen Läden von Levi´s, Pizza Hut und adidas hinein. Auch unzählige Juweliere haben dort ein großes Geschäft. Ich blicke mich um in der unterbewussten Gewissheit, dass ich in jeden dieser Läden reinspazieren kann, vorbei an der Security, mich ganz normal umsehen kann ohne dabei schief angesehen zu werden. Und das wohl allein deshalb, weil ich weiß bin. Durga hingegen wird wohl nie einen dieser Läden von innen sehen, die von außen mit langen Lichterketten verziert sind und so anziehend und verlockend sind. Wieder habe ich ein komisches Gefühl.  Doch wie fast jeder Mensch kann ich diese komischen Gedanken gut ignorieren, mein Gewissen abstellen.

Und so kam es, dass ich am nächsten Tag in eben dieser Einkaufsmeile in sämtliche Läden reinspaziert bin. Doch das ist eine andere Geschichte…

Samstag, 26. November 2011

Warum ich aus Solidarität gegenüber den Männern meine Lieblingsband nicht mehr hören kann


Ich lebe nun seit zweieinhalb Monaten nur unter Frauen und Mädchen, unter Feministinnen und Müttern, ständig umgeben von weiblichen Wesen (selbst unser Torwächter ist eine Frau)! Im Bus oder in der Rikscha sind die Bereiche für Männer und Frauen weitestgehend getrennt und Männer kommen hier quasi nie zu Besuch: Die Trinkwasser-Lieferanten bleiben entweder vor dem Tor stehen oder tragen die Kanister innerhalb von 2 Minuten auf direktem Weg in die Küche, mit dem „Brother“ (= ein junger Lehrer der Zehntklässlerinnen) kann ich mich auch nicht unterhalten, weil ich damit die volle Eifersucht von etwa 8 postpubertären Mädchen auf mich ziehen würde und dann fällt mir auch schon kein männliches Wesen mehr ein, mit dem ich mich unterhalten könnte (mimimimimi).

Kurzum: ich lebe in einer Welt, die ausschließlich aus X-Chromosomen besteht! Das einzige mickrige Y-Chromosom (das ja laut meines Wissens auch nur ein verstümmeltes X-Chromosom ist – oh Mann, was muss ich mich zusammenreißen, das nicht weiter zu kommentieren! ...) steuert Charly bei, ein junger, schwarzer, vor allem aber nicht sonderlich intelligenter (um nicht zu sagen gestörter) Hund, der eigentlich nur für kurze Zeit in Pflege bleiben sollte aber irgendwie nicht mehr abgeholt wird (vielleicht sollten wir ihn in die Ukraine verschicken).

Der Kontakt zu Männern beschränkt sich auf Glotzen und Gaffen, die Kommunikation auf Halbsätze wie „Oh, very nice!“ oder „Where you going?“ und natürlich auf das ständig zu hörende Geräusch der Handykameras (hier ein Beispiel eines typisch männlichen Verhaltensmusters: Der Mann gegenüber versucht so unauffällig wie nur irgendwie möglich ein Foto von Alma und mir zu schießen, was ihm am Ende sogar tatsächlich ohne unsere Kenntnisnahme gelungen wäre, hätte er nicht vergessen den Ton seines Handys auszuschalten. Als das überdimensional laute „KLICK!“ ertönte war natürlich klar, was sich in den letzten Minuten abgespielt hatte und der arme (meine Definition von weiblicher Ironie besteht darin, dass frau versucht, diese möglichst unauffällig einzusetzen, damit ein Großteil der Männer sie überliest) Mann schaute wie Carsten Spengemann, nachdem er den Diamantring (natürlich nicht!!) gestohlen hat (eigentlich wollte ich als Vergleich die lustigen „Bunga-Bunga-Partys“ mit der lieben Ruby heranziehen, aber da man nicht über Tote lästert, sollte man das auch nicht über pensionierte Politiker tun).)
(Für den Fall (und der trat vor einigen Tagen ein), dass sich doch mal Männer in unser trautes Mädchenheim verirren (es waren „visitors“ von einer großen Bank, die hier Spiele mit den Kindern durchführten (ich musste kurz überlegen, was sie eigentlich hier gemacht haben, weil mir zunächst nur eingefallen ist, dass sie ganz viele Kekse mitgebracht haben…) und dann Preise verteilten), stellt die schwierige Kommunikation mit den Mädchen keinerlei Hindernisse mehr dar. Die Mädchen ziehen ihre aller schönsten Kleider und Panjabis(?) an, die sie sonst nur an ihrem Geburtstag tragen, haben in der Regel aufwendige Frisuren inklusive Blumen im Haar, tragen allen Schmuck, den sie besitzen, stehen ewig vor den kleinen Spiegeln, schmieren sich Puder ins Gesicht, der gut riecht und die Haut heller wirken lässt (hier gilt schließlich: je heller die Haut, desto schöner der Mensch) und, was mir an diesem Kult am besten gefällt, alle Mädchen waschen sich die Haare! Wie kann man bei diesem Trubel nicht mitbekommen, dass Besuch ansteht? (typisches Beispiel einer rhetorischen Frage)). (Ohoh, hoffentlich hab ich in diesem Klammer-Chaos nicht den Durchblick verloren…naja, mach ich mal schnell nen neuen Absatz!)

Alma hat mir neulich erzählt, dass Frauen, wenn sie lange Zeit zusammenleben, irgendwann zur gleichen Zeit ihre Tage bekommen. Das erklärt einiges. Zum Beispiel, dass unsere Köchin, wenn sie die Tür zur Vorratskammer (die im Übrigen nach dem Motto des genialen Helge Schneider Liedes (ok, welches seiner Lieder ist das nicht?!) „Es gibt Reis!“ konstruiert wurde) aufschließt, immer gleich 6-10 rieeeeeesige Packungen (SB-Union-Größe) Damenbinden herausholt (Tampons sind hier eine Rarität!). Wenn ich zufällig sehe, wem sie die Packungen dann in die Hand drückt bekomme ich in der Regel ein schamvolles Lächeln zurück, was ich unter dem Aspekt, dass hier ausschließlich Frauen leben, genauso wenig nachvollziehen kann, wie so einige andere Tatsachen auch: Wieso zum Beispeil zuppeln die Mädchen an mir herum, wenn mein Oberteil einen zu weiten Ausschnitt hat, wenn meine Leggins nicht den Knöchel bedeckt oder wenn man die Träger des BHs sieht?! Hallo?? Wir sind doch unter uns, unter Frauen! Dann kann das doch unmöglich als aufreizend verstanden werden, schließlich würde ich so ja nicht in die Stadt gehen. „Indian culture“, bekomme ich regelmäßig als Antwort auf meinen genervten Blick, wenn wieder mal ein Fetzen Haut zu viel zu sehen ist. Abgesehen davon, dass dieses Argument der Wahrheit entspricht ist es auch wirklich clever, da total entwaffnend. Was will man da noch sagen? Also lasse ich es zu, wenn mir mit Sicherheitsnadeln der Ausschnitt bis unters Kinn (ok, das ist geringfügig übertrieben) zugesteckt wird.

Und gerade als ich dabei bin, zu denken, ich könnte denken, wie Inderinnen denken, stehen zwei von ihnen abends vor meiner Tür und wollen, dass ich sie aufkläre über den Gebrauch von Tampons. Ganz ungehemmt (nein, sie waren nicht betrunken) und ganz selbstverständlich. Ok, dachte ich mir, warum nicht, und tat, was von mir verlangt wurde (als sie von mir forderten, es ihnen vorzumachen, stieg ich allerdings aus!). Interessiert hörten die beiden zu und fanden den Gedanken daran, Tampons zu benutzen skurril und völlig absurd (der Grund: „Indian culture“).

Gelegentlich bekommt man auch die allgemein bekannte Stutenbissigkeit zu spüren, jedoch muss ich sagen, dass ich immer wieder verblüfft davon bin, wie fair hier geteilt wird. Nicht nur die Arbeit (z.B. Putzen oder Gartenarbeiten) sondern auch das Essen. So bekommt es unsere Köchin hin, drei Papayas gerecht auf 20 Mädchen aufzuteilen und ich habe noch nie gesehen, wie eine 2 Liter Flasche Pepsi so exakt auf 16 Personen aufgeteilt werden kann. Da war jeder Tropfen im richtigen Becher!!

Der wohl größte Streitpunkt besteht aus Lästereien über den jeweiligen „hero“ der Mädchen (jedes Mädchen hat hier einen bestimmten Schauspieler (zu 98%iger Wahrscheinlichkeit hat er einen großen, markanten Schnauzbart), der sich „hero“ nennt als Schwarm, sprich: das Mädchen hat sämtliche Bilder von diesem Kerl aus der Zeitung ausgeschnitten und an einem sicheren, oft geheimen Ort versteckt, sodass sie ihn jederzeit anhimmeln kann). Und das ist starker Tobak (??), wenn man sich über diesen gottgleichen „hero“ lustig macht (was manchmal nicht völlig zu vermeiden ist, zumindest von meiner Seite aus).

Ihr seht hoffentlich: Das Leben ohne Männer hat seine Tücken. Besonders für mich, als Westlerin, die an das Leben mit Frauen UND Männern gewohnt ist,  ist das oft nicht einfach mit so viel Östrogen klarzukommen (schließlich ist es schon eine Herausforderung mit meinem eigenen umzugehen!).

Es ist schon wirklich interessant, so abgeschirmt von Männern zu leben und hat auch viele Vorteile (z.B. kann man viel ungehemmter tanzen). Nur eines kann ich jetzt nicht mehr tun zumindest nicht in dem Ausmaß, wie ich es bislang tat: Eine meiner Lieblingsbands kann ich nicht mehr länger hören, beziehungsweise nur noch ganz dosiert.

Der Grund? (nein, diesmal ist es nicht „Indian culture“! Obwohl…)
Die Band heißt „the xx“. Und das sind mir einfach zu viele „X“ unter den nicht vorhandenen „Y“s!

(eigentlich sollte der Eintrag hier beendet sein, allerdings ist mir gerade noch was eingefallen: )



Der Kompromiss?
Für zwei Lieder der „Yeah Yeah Yeahs“ (immerhin drei „Y“s! Und die Band ist auch schnieke!) werd ich jetzt eins von „the xx“ hören, um mein Gewissen zu entlasten und mir das Gefühl zu geben, endlich wieder was für die Männerquote zu tun. Und für den Fall, dass gar nichts mehr hilft, schließe ich mich ein und höre 5 Stunden Metallica. Die haben zwar kein „Y“ im Namen, aber dafür jede Menge davon in ihrer Musik!

Sonntag, 20. November 2011

Here we go again: 3 minutes in the brain of Birte


(Mein Hirn ist gerade voll mit wichtigen Sachen, weil hier echt gerade alles drunter und drüber geht und ich nicht weiß, wo ich die nächsten Monate leben werde. Deshalb ist es naheliegend, einen völlig sinnlosen 3-Minuten-Eintrag zu verfassen.)

Wassermelonen.

Ich liebe Wassermelonen. Auf meiner „Was ich in diesem Leben unbedingt noch tun muss“-Liste steht als Punkt 41 „eine 8kg schwere Wassermelone essen“ – allein versteht sich. Soeben saß ich mal wieder auf dem Dach, habe „Florence + the machine“ gehört und meine Wassermelone (die im Übrigen etwa halb so viel kostet wie ein Apfel!) gegessen. Zunächst hab ich sie mit meinem genialen Taschenmesser (damit ihr es euch von der Größe besser vorstellen könnt, nenne ich es ab jetzt lieber Rucksackmesser) geteilt. Ihr kennt das, die Hälften sind nie gleichgroß. Und da ich so große Lust auf diese köstliche Melone hatte, war für mich klar, zunächst das kleinere und somit unattraktivere Stück zu essen, um mir den leckersten Teil  für den Schluss aufzubewahren. Das tat ich und  aß und aß und aß. Und diese Geschichte sollte anders ausgehen, als die der Raupe Nimmersatt, denn irgendwann, es war etwa nach der Hälfte, spürte ich ein Sättigungsgefühl. Dumme Situation, schließlich hatte ich das beste Stück noch vor mir. Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen, unmöglich! Natürlich aß ich auch noch die zweite Hälfte, doch es war schon fast ein Zwang, ein Kampf gegen den inneren Schweinehund und natürlich gegen die Ameisen, die mir schon viel zu viel geraubt haben, als dass ich ihnen auch noch meine geliebte Melone opfern würde!

Beim letzten Bissen kam dann endlich die Erkenntnis, dass ich von nun an damit aufhören werde, mir das Beste für den Schluss aufzuheben. Ist ja auch totaler Schwachsinn, weil man dann Gefahr läuft, eben dieses am Ende nicht mehr schätzen zu können, weil man übersättigt ist.

Und wenn ich nächstes Jahr wieder nach Deutschland komme und ich hab immer noch Lust, die Welt zu sehen, dann werde ich reisen, anstatt zu studieren. Denn dann schmeckt die Wassermelone einfach am besten!


Mittwoch, 16. November 2011

Papaya oder Pinguin?


Nachdem ich nun über zwei Monate in Indien lebe (ich hab lange überlegt, ob dieses Wort an der Stelle passt und die Antwort war nein, doch ich mir fiel auch nichts Treffenderes ein…), möchte ich einen kurzen Vergleich  zwischen Deutschland und Indien anstellen, indem ich auch auf meine persönliche Entwicklung eingehen werde (na wenn das kein 15-Punkte Übersichtssatz ist!).


Ziemlich am Anfang meines Auslands-Jahres fragte mich ein Mädchen, wie warm es gerade in Deutschland sei und ich antwortete, dass es dort im Vergleich zu Indien, sehr, sehr kalt sei (man munkelt, es sei sogar bereits (Zitat: ) „arschkalt“). Die logische Frage, die sich meiner Äußerung anschloss war die, ob es denn dann in Deutschland Pinguine gäbe, was ich lediglich mit einem Lachen beantworten konnte (vor allem unter dem Aspekt des Klimawandels). So erklärt sich schon mal die Überschrift, denn dass die Papayas für Indien stehen (ich setze mich jeden Morgen bei schöner Musik und Sonnenschein aufs Dach und esse eine melonengroße, kernlose, extrem leckere Papaya), lässt sich auch ohne große Erklärung herleiten (die ich ja somit dennoch gegeben habe).


Was ich gelernt habe (spätestens jetzt wäre dieser Text keine 15 Punkte mehr wert, weil ich in Stichpunkten fortfahren werde):


  • Ø  Waschen mit Kernseife auf einem Stein bei minimalem Wasserverbrauch (zumindest theoretisch)
  • Ø  Leben aus  einem Koffer
  • Ø  Haarewaschen im Eimer
  • Ø  Entlausen
  • Ø  Spontanes Redenhalten, Singen und Tanzen im nüchternen Zustand, bei Tageslicht und unter großer Beobachtung
  • Ø  Ein paar Worte Telugu
  • Ø  Als Blondine wird man ständig abgezockt
  • Ø  „scharf“ ist relativ
  • Ø  Kokosnüsse zu öffnen
  • Ø  Eine stark (und das ist mit deutschen Verhältnissen einfach nicht vergleichbar!) befahrene Straße ohne bleibende Schäden zu überqueren
  • Ø  Rupees in Euro umzurechnen (nach über 2 Monaten fiel uns nämlich ein ähm…kleiner Rechenfehler auf, der sich allerdings zu unseren Gunsten auswirkt)
  • Ø  Wenn ein Inder mit „Ja“ oder „Nein“ antwortet, bedeutet das meistens, dass er die Frage nicht verstanden hat
  • Ø  „Englische“ Gottesdienste sind trotzdem auf Telugu (abgesehen von der Bekanntgabe einer „marriage“, sprich:  In über einer Stunde des offiziell englischen Gottesdienstes kamen etwa drei englische Worte vor)
  • Ø  Von den indischen Fahrzeugen würde nur ein winziger, quasi nicht erwähnenswerter Bruchteil den deutschen TÜV bestehen
  • Ø  Wer hupt hat Recht
  • Ø  Sämtliche Klatschspiele (dank Laxmi!)
  • Ø  Beim der Yogaübung „Hund“ die Hacken vollständig auf den Boden zu bekommen
  • Ø  Mit der Hand zu essen (habe meiner Technik schon fast perfektioniert!)
  • Ø  Leben mit und von Krabbeltieren aller Art
  • Ø  Ein Affe im Zoo hat kein schönes Leben
  • Ø  Die Jungfrau Maria hat möglicherweise einen indischen Sari getragen
  • Ø  Je heller die Haut, desto schöner und angesehener ist der Mensch
  • Ø  Kranke Straßenhund-Welpen werden schon mal ermordet, indem man sie einfach gegen einen Stein schlägt
  • Ø  Ich habe einen Schweinemagen
  • Ø  Glück kann man sich erarbeiten
  • Ø  Selbst mit 20 kann man noch unreine Haut haben
  • Ø  Es ist gut, wenn man immer Traubenzucker dabei hat
  • Ø  Wenn ein indisches Mädchen zum ersten Mal ihre Tage hat, gibt’s ein riesen Familienfest mit ganz viel leckerem Essen
  • Ø  Es gibt fast nichts, was man nicht selbst machen kann
  • Ø  Weichspüler, Stoßdämpfer, Stühle, Schuhe, und Besteck sind überbewertet
  • Ø  Ich werde nie wieder ohne Zip-Bags, Desinfektionsspray und Panzerband verreisen
  • Ø  Die Welt ist ziemlich groß
  • Ø  Ein Leben ohne Männer ist manchmal komplizierter als mit
  • Ø  Ich habe für die nächsten 20 Jahre die Nase voll vom Dorfleben
  • Ø  Der Mensch ist ein absolutes Gewohnheitstier
  • Ø  Und natürlich: „Indian boys are ALL dirty!“



Was ich mir vorgenommen habe:

  • Ø  Ich werde ein Buch schreiben, bzw. habe schon damit begonnen (ich erwähne das nicht, weil es gut wird, sondern damit ich mehr unter Druck stehe, um es auch wirklich eines Tages fertig zu schreiben)
  • Ø  Ich möchte die nächsten Jahre an Weihnachten zu Hause sein
  • Ø  Ich werde nur etwas studieren, was mir wirklich Spaß bereitet
  • Ø  „Die Drei ??? und die Schattenmänner“ einmal bei Nacht komplett durchzuhören ohne vor Angst fast zu sterben
  • Ø  Ich will in meiner späteren Wohnung immer einen vollen Obstkorb haben
  • Ø  Ich werde vor meiner Rückreise meinen ganzen Koffer mit indischem Essen vollstopfen
  • Ø  Ich werde mir nun jedes Mal, wenn ich in Ghatkesar bin einen Fruit-Mix für 10 Rupees (ca 18 Cent) gönnen!
  • Ø  Ich werde diese Liste nun beenden, weil sie sonst nie endet (ich hab mir schon ne extra Liste angelegt mit dem Titel „Dinge, die ich in meinem Leben unbedingt noch tun muss“, die bereits 89 Punkte hat…) 



Woran ich weiterhin arbeiten werde:

  • ·         An meiner Ordnung
  • ·         An meiner Geduld
  • ·         An meinem Ekelempfinden
  • ·         An meiner Spinnen-Angst
  • ·         An meinen Gefühlsausbrüchen
  • ·         An meiner starken Unlust, Entscheidungen zu treffen
  • ·         An meiner nachtragenden Art
  • ·         An meiner Toleranz
  • ·         An meiner Zerstreutheit (ok, ich gebe es hiermit zu: manchmal(!) ist es mehr als eine 3…)
  • ·         An meiner generellen Belastbarkeit
  • ·         An meiner Impulsivität
  • ·         An meiner Rückenmuskulatur (sonst bringt mich die „Matratze“ noch um!)
  • ·         An meiner Freshness und Lässigkeit
  • ·         Und daran, irgendwann mal zum Punkt zu kommen – Punkt.



Oh Mann, ich könnte an diesen Listen wirklich endlos weiterschreiben, schließlich waren das die Dinge, die mir innerhalb einer halben Stunde eingefallen sind…
Angesichts der vielen Dinge, die ich hier gelernt habe und die mir in Deutschland wohl nicht widerfahren wären, tut Indien mir wirklich gut. Ich habe mich mittlerweile wirklich gut eingelebt und mich mit allem irgendwie arrangiert. Doch es gibt viele Dinge, an die ich mich zwar gewöhnt habe, die ich jedoch nie wirklich schätzen werde. So macht es mir nichts oder kaum etwas aus, wenn ich Haare und Insekten in meinem Essen finde, wenn in der Küche Ratten sind, wenn mir nachts die Ameisen übers Gesicht krabbeln, wenn mein ganzer Kopf voller Läuse ist, wenn das Bad nie wirklich sauber wird, wenn man vor jedem Klospülen erst 10 Liter Wasser in den Behälter füllen muss, wenn ich nicht ausschlafen kann, weil mein Rücken so wehtut, wenn im Bad circa 20 Spinnen leben, wenn man sich nach dem „Duschen“ sofort wieder dreckig fühlt. Damit komme ich klar, auch weiterhin. Doch ich werde den Wunsch nach einer richtigen Dusche, in der das Wasser und somit auch der Dreck von oben nach unter runterläuft ohne das ganze Bad zu überfluten genauso wenig loslassen können, wie den Traum vom krabbeltierfreien Schlaf. Ich denke, diese Erfahrungen tun mir gut, ich werde davon langfristig profitieren und sie sind es letztlich auch, die mich hierher kommen lassen haben (zumindest auch).


Es gibt unendlich viel, was ich an den Pinguinen schätze und vieles davon ist mir auch erst in den letzten beiden Monaten klargeworden. Doch im Moment ist hier Papayasaison, was mir die Entscheidung zwischen Pinguin und Papaya dann doch erleichtert ;)

Freitag, 11. November 2011

Wie ich für einen Moment die Welt der „dirty“ Tempelritter aus ihren Ankern riss


Jippie! Endlich ein Ausflug! Endlich ein Grund, mal wieder Kajal aufzutragen und Schuhe anzuziehen!
Es ging zum nahegelegen Tempel in Keesara, weil heute irgendein religiöses Fest ist (ich hab bestimmt schon fünfmal nachgefragt, wie dieses Fest heißt, doch zu meiner Schande, kann ich mir den Namen einfach nicht merken…man wird halt auch nicht jünger!). Also wurde die etwa 50 Frau große Gruppe durch zwei geteilt, da wir nur ein Auto zur Verfügung hatten. 24 Personen, Kekse und Snacks für 50 Personen, ein 20 Liter Wasserkanister, etliche Schälchen und Becher und ich im ersten Auto. (Ich kann mir nicht vorstellen, dass auch nur einer der etwa 1,3 Milliarden Inder Platzangst hat, denn mit einer solchen Krankheit wäre man hier quasi nicht überlebensfähig.) Wie gut, dass ich mich nach nun zwei Monaten recht gut an diese Art von Körperkontakt gewöhnt habe und dass die Strecke zum Tempel wirklich recht kurz war. 

Dort angekommen warteten wir zunächst einmal auf die zweite Gruppe, in der auch Alma war. Ich nun also als einzige Nicht-Inderin unter einem Haufen Einheimischer. Es war mir fast peinlich, wie sehr die Mädchen untereinander darum kämpften, meine Hand halten zu dürfen und dass nur, um auch einen Bruchteil der Aufmerksamkeit ergattern zu können, die mir zuteil wurde und die ich mittlerweile echt satt habe (wer hätte gedacht, dass ich jemals an diesen Punkt kommen würde?). Ich bemühte mich, eine positive Grundeinstellung zu bewahren und lächelte in der Gegend herum. Schließlich ist lächeln, neben singen und tanzen, das einzige, was jeder Mensch versteht. Hin und wieder spielte ich beim Gehen an meiner Kamera herum, was zwar total prollig ist, was aber in dem Moment der einzige allgemein akzeptierte Grund war, mir mal keine schwitzige Hand aufzuzwingen. Überall Blicke, Lächeln, Fotos und ständiges Kichern über eben diese Reaktion der Menschen seitens der Mädchen, die sich ja eigentlich schon längst an mich gewöhnt haben, die jedoch in der Öffentlichkeit einen viel anhänglicheren Umgang mit mir pflegen, ja manchmal sogar damit angeben, mich zu kennen. Wir gingen, nachdem etwa 20 Fotos von mir in sämtlichen Situationen geschossen wurden in einen Park, der zwar ziemlich künstlich wirkte, mich jedoch irgendwie trotzdem total faszinierte, weil er einigermaßen sauber war. Zunächst standen wir in einem Kreis. Ich war immer noch positiv gestimmt, es viel mir leicht zu lächeln und die immer gleichen Fragen nach meinem Namen und der Herkunft und der Absicht nach Indien zu kommen zu beantworten. Es geht meistens weniger darum, mich zu verstehen (denn das trifft in den seltensten Fällen zu), sondern darum, generelles Interesse an mir zu zeigen und mir gleichzeitig zu signalisieren, dass man diese drei englischen Sätze beherrscht.

Je mehr ich lächelte, je mehr Fragen ich beantwortete, je mehr Kinderhände ich berührte, desto größer wurde das Interesse an mir. Schließlich meinten meine Begleiterinnen, ich solle mich lieber hinsetzen, was ich auch tat. Doch da ich nun in meiner Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt war, wurde ich als Fotoobjekt nur noch attraktiver. Also stellten sich etwa 6 Mädchen um mich herum, was quasi als Schutzwall dienen sollte. Besonders eine Gruppe junger Männer ließ sich von diesen für mich immensen Maßnahmen nicht wirklich beeindrucken, also drehte ich mich schließlich mit dem Gesicht zu einem alten, vollgemüllten Busch. Super, von wegen schöner Park! Es tummelten sich mittlerweile rund 30 Menschen um mich herum, die meisten waren Jugendliche oder junge Männer, die Familien schickten ihre kleinen Kinder zu mir, die gar nicht wussten, wie ihnen geschah, denen ich aber immer ein Lächeln schenkte. Zum ersten Mal hatte ich Mitleid mit Knut. Als Eisbär im warmen Berliner Zoo muss es wohl noch schlimmer sein, als als blonde Frau im überfüllten indischen Park. Ständig riefen die Männer irgendetwas, manchmal kicherten die Mädchen verlegen und ich wusste nicht, ob ich froh sein sollte, sie nicht verstehen zu können oder nicht. Jedenfalls störte es mich sehr, nicht reagieren zu können, sondern stattdessen auf die Schlagfertigkeit kleiner Mädchen angewiesen zu sein.

Ich weiß nicht, wie er es schaffte, den Schutzwall zu durchbrechen, (ich konnte ja außer dem bescheuerten Busch auch nichts sehen!), doch plötzlich stand ein Mann vor mir, reichte mir die Hand und sagte: „Hello Madame, how are you?“
Ich weiß nicht, ob ich es aus Höflichkeit tat, oder weil der junge Mann sehr freundlich wirkte, aber wahrscheinlich passierte es einfach aus Gewohnheit. Ich reichte ihm auch meine Hand und sagte: „Oh, I’m fine, thank you.“ Stille. Entsetzen. Alle Augen, wirklich ALLE in meinem näheren Umfeld starrten mich nun an. Na klasse Birte, das hast du wieder toll gemacht, dachte ich mir, und noch bevor ich mir ausführlich zu der Situation gratulieren konnte, in die ich mich gebracht hatte, sagte Saramma, eines der Mädchen aus dem Heim aufgeregt: „Oh sister, don’t do that!!! Indian boys are all dirty!!!“ Ok. Meinetwegen. Hinnehmen. Statt zu besänftigen, hatte ich die Männermasse um mich herum nur noch mehr angestachelt und ihnen neuen Zündstoff gegeben. Ich hörte, wie sie etliche Male den kurzen Dialog mit mir durchgingen. Dies war mal wieder Grund genug für mich, ein Selbstgespräch auf Deutsch zu führen, was ich natürlich laut tat, da mich niemand versteht (hoffentlich hab ich mir das wieder abgewöhnt, wenn ich in Deutschland bin!). Die letzten Hemmschwellen waren nun gebrochen, die Männer hüpften mit ihren Handykameras vor mich und meinen treuen Freund, den Busch, und schossen ein Foto nach dem anderen. Das war genug. Zwei Mädchen eilten zu Nagomanie, unserer Torwächterin, die die erste Gruppe begleitet hatte und während des Spektakels abseits stand. Diese kam in großen Schritten auf die Männer zu und brüllte wie eine Löwin, die ihre Jungen beschützt (in dieser Situation hätte ich nur zu gerne Telugu verstanden!). Nachdem der Mann, der mir die Hand gereicht hatte, unschuldig mit den Schultern zuckte, holte sie kurz entschlossen aus und knallte dem Typen eine. Aber so richtig. Volle Kanone. Mitten ins Gesicht. Es hat geklatscht wie bei Bud Spencer!
Die Mädchen forderten nun auch mich auf, einen, wie sie sagten, „Karate-Trick“ anzuwenden und den Typen somit nochmal selbst zu vermöbeln. Ich musste wirklich lachen bei der Vorstellung, demselben Kerl, dem ich vor wenigen Sekunden noch die Hand gegeben habe, eine zu scheuern. Ich führte also ein weiteres Selbstgespräch (ich glaub die Mädchen merken gar nicht, dass es Deutsch und kein Englisch ist, was ich dann vor mich hin blubbe). Ach nein, Karate kann ich ja außerdem gar nicht, ich könnte den „Feind“ höchstens mit meiner berüchtigten Brennnessel in die Flucht jagen… Noch ehe mein offenkundig nicht sehr tiefgründiges und gehaltvolles Selbstgespräch beendet war, hatte Nagomanie einen solchen Eindruck hinterlassen, dass wir von nun an von lästigen Zuschauern befreit waren. Ob mir das mit meiner Brennnessel wohl auch gelungen wäre? Die Frage wird wohl für immer offen bleiben, von daher gebe ich mir die Antwort, die gerne hören will…
Endlich kam die zweite Gruppe! Endlich nur noch die halbe Aufmerksamkeit! Endlich ging es los zum Tempel. Nachdem wir durch kleine Gittergänge gelaufen waren, die den Warteschlangen vor Achterbahnen ähneln, ging es ab ins Gebäude. Zunächst mussten wir eine Glocke läuten, zweimal, mit der rechten Hand – und zwar jeder! Also ständiges Geläute. Ich fragte mich, wie es die (im Übrigen halb nackten!) Männer im Tempel aushielten, den ganzen Tag dieses Gebimmel zu ertragen… Ich verstand überhaupt nichts von dem Kult, der sich vor meinen Augen abspielte. Mal setzte man mir eine eiserne Glosche auf den Kopf, dann bekam ich einen roten Punkt auf die Stirn gemalt. Ich befolgte einfach stupide was mir gesagt wurde, beziehungsweise, da in der Regel niemand was sagte, imitierte ich einfach das Verhalten der anderen. Es ging in einen Raum mit vielen kleinen Statuen von Affen und Elefanten (Ich: „Und dieser Elefant da ist also euer Gott?“; Mädchen (ganz entsetzt): Nein, das ist kein Elefant, das ist Gott!!“).

Die Mädchen und die Heimleiterin, die unmittelbar vor mir gingen griffen ständig mit einer Hand an diese Figuren und küssten jene dann um danach mit den Fingern ein Kreuz (oder so was in der Art) auf ihre Brust zu malen. Die ersten drei Statuen tat ich einfach nichts außer zusehen und ernst bleiben. Dann wurde ich aufgefordert, mitzumachen. Ok, dachte ich mir, nach den ganzen Flöhen und Läusen werden dich die paar Bakterien auch nicht mehr umbringen, und griff nach der Figur.
Die Inder, so habe ich festgestellt, haben in der Regel ohnehin recht große Augen. Doch diese vergrößerten sich in dem beschriebenen Moment nochmal locker um das doppelte. Ich Tölpel! Das hätte ich nun wirklich wissen müssen! War das etwa schon wieder ein blonder Moment, die Strafe für den kurzen Körperkontakt mit dem „dirty“ Inder oder lag es an der Überlegung mit den Bakterien? Keine Ahnung, was mich da geritten hat, aber ich habe DEN Fehler schlechthin gemacht: Ich nahm nicht die rechte, sondern die linke, unreine Hand. Schande über mein Haupt! Und alle haben es mal wieder gesehen, weil alle gespannt darauf warteten, wie sich die dumme Deutsche verhält. Wahrscheinlich haben sie gehofft, dass ich mich blamiere und da hab ich ihnen eben den Gefallen getan. Auch der Tempel-Mann an der nächsten Station, der eine weitere Glosche für den Kopf bereithielt blickte mich entsetzt an und weigerte sich für einen kurzen Moment, mir die goldene Schüssel auf den Kopf zu setzen. Nach einem kurzen Kommentar seitens der Heimleiterin hat er es dann aber doch gemacht (ich war froh, KEIN Telugu zu verstehen, das wäre bestimmt peinlich für mich gewesen…). Meine Augen sahen schon den Ausgang in unmittelbarer Nähe, als ich an den Händen gepackt wurde und in einen kleinen, sehr dunklen Raum gezogen wurde. Hier standen nun vier Männer, die wirklich quasi nichts anhatten, vor einigen pechschwarzen, menschengroßen Figuren mit riiieeeesigen weißen Augen, und bunten Kleidern, die total unheimlich waren! Einer der Männer fragte etwas und die Mädchen um mich herum antworteten mit ihrem Namen. Ich war schon stolz, weil ich das Gefühl hatte, alles verstanden und die Lage im Griff zu haben. Die Männer sprachen eine Art Gebet, nachdem sie den Namen der Person erfahren hatten und banden diesen darin ein. So. Nun war ich an der Reihe. Laut und klar sagte ich „BIRTE“. Natürlich verstand er diesen Namen nicht. Nachdem ich ihn zweimal wiederholt hatte und die übrigen, streng gläubigen Hindus im Raum langsam die Geduld verloren antwortete eines der Mädchen für mich und sagte, dass ich „PRIYA“ heiße (das bedeutet übrigens „darling“!). Also gut, dann wurde eben nicht Birte, sondern Priya heilig gesprochen, was solls, bei meinem Geschick den Fettnäpfchen aus dem Weg zu gehen hab ich diesen Sonderbonus ja auch gar nicht nötig. Zum Abschluss sollten wir nun noch eine Blume vom Tablett nehmen, auf dem auch Kerzen standen. Ich griff also ohne langes Zögern zu, war froh, dass ich nichts mehr sagen musste und dass ich wie selbstverständlich die rechte Hand nahm. Plötzlich schnappte das Mädchen rechts von mir laut nach Atem und rief „Sister!!“. Ich bemerkte, wie mein Oberteil am Arm leicht anfing zu dampfen. Offensichtlich war ich zu nah ans Feuer gekommen. Ich zog den Arm weg und wie das für mich typisch ist, gelang mir das nicht, ohne ein entsprechendes Geräusch des Entsetzens auszustoßen. Da war es vorbei mit der spirituellen Ruhe. Nein, nein, es ist nichts passiert, aber ich war ja so froh aus diesem Tempel draußen zu sein!

Und die Moral von der Geschicht‘:  Inder sind alle „dirty“, ich wünschte, ich hätte nicht zwei linke, sondern zwei rechte Hände und „Mit Feuer spielt man nicht“!

Achja: Und ich werde ernsthaft darüber nachdenken, Karate zu lernen

Montag, 7. November 2011

Lebenserwartung, Erwartungen an das Leben und anderer Unsinn, oder: Ode an die Mathematik


Es kann kein Zufall sein, dass meine Haare durch die Sonne noch blonder werden. Bei Sonne findet die Aufnahme meiner Solar-Taschenlampe mit Energie antiproportional zu der meines Hirns mit Eindrücken statt. Dieser Prozess gipfelte soeben in einer relativen Maximalstelle. Ich saß auf dem Dach und aß meine frisch gekaufte Papaya. Was mit Gedanken wie „Meine Güte, ist die aber lecker! So süß und ganz weich! Und das für die paar Cent, das ist schon echt genial…“ begann, endete nach nur wenigen Augenblicken in einem primitiven „GEIL“-Gedanken. Ich blicke in die Sonne und denke „Sonne.“. Nicht auszumalen, wie die Situation wohl verlaufen wäre, hätte ich nicht zeitgleich Vitamine, sondern lediglich Fett und Zucker zu mir genommen! Womöglich hätte ich dann „Mond.“ gedacht… Nur gut, dass ich mich mittlerweile in den Schatten gesetzt habe. Warum ich dann trotzdem so eine schwachsinnige Einleitung schreibe?? Naja, eigentlich hatte ich den Hintergedanken, euch eine perfekte Rechtfertigungsvorlage zu liefern, falls ihr der Auffassung seid, es bedarf einer solchen, wenn ich euch sage, dass ich im Internet meine Lebenserwartung ausgerechnet habe (viel mehr „ausrechnen lassen“, aber nach den geschickt verwendeten mathematischen Floskeln im zweiten und dritten Satz dachte ich, es nimmt mir vielleicht jemand ab, wenn ich behaupte, es selbst getan zu haben…). Doch jetzt so im Nachhinein fällt mir ein, dass ich diesen Hintergedanken ebenfalls hatte, als ich mich in der Sonne aufgehalten habe. Oh Himmel, wenn ich nur halb so verwirrt bin, wie ich klinge ist es höchste Zeit, in eine andere Klimazone umzuziehen! (Oder ist es etwa möglich, dass die Läuse auf meinem Kopf Mutanten sind, die nicht nur mein Blut, sondern auch mein Hirn aufsaugen?!)

So, Schluss jetzt mit der Firlefanzerei! Laut Internet beträgt meine Lebenserwartung 96,7 Jahre. Klingt ja schon mal recht viel, wie ich finde. Das kommt aber wohl hauptsächlich zustande, weil ich bei der wöchentlichen sportlichen Betätigung und beim Alkoholkonsum gelogen habe. Aber ihr kennt das ja: Ab sofort wird alles anders – besser versteht sich! Vor einigen Tagen habe ich meinen 20. Geburtstag… nun ja… gefeiert  (wenn ich nicht wüsste, dass mir alle nen Vogel zeigen, würde ich erlitten schreiben). Ich verstehe es ja selbst nicht, schließlich hatte ich 20 Jahre Zeit, um mich auf diesen Tag vorzubereiten und mich darauf einzustellen. Es geht in erster Linie einfach um die Zahl. 20 sieht ja schon mal  an sich ziemlich blöd aus, ich würde sogar so weit gehen, zu behaupten, dass 20 eine äußerst unattraktive Zahl ist. Und dann geht es natürlich um die Bedeutung von 20. Mit zwanzig kann man sein Verhalten nicht mehr mit „postpubertären Phasen“ rechtfertigen, man ist auch nicht mehr süß und schon gar nicht unschuldig! Jetzt das naive Blondchen zu spielen wäre lediglich ein Zeichen von Schwäche, und selbst bei meinen schauspielerischen Fähigkeiten würde mir das niemand mehr ernsthaft abnehmen (ist ja auch vollkommen abwegig – ich und naiv!). Mozart war 15, als er seine erste Schuloper komponierte, Magdalena Neuner war bereits mit 19 dreifache Weltmeisterin und ich werde frühestens dann mit diesem Blog weltberühmt werden, wenn ich schon 20 bin, weil sich die Zeit nicht mehr zurückdrehen lässt. Und auch das mit dem Aufhalten wird spätestens dann wieder schwierig, wenn ich in Deutschland bin, wo es nicht an jeder Ecke Granatäpfel zu kaufen gibt, die die Haut jung halten. Ach es ist vergeblich und der einzige Grund, warum ich deshalb nicht durchgehend grimmig gucke ist der, dass das die Faltenbildung fördert.

20 Jahre von erwarteten 96,7, das sind nach Adam Riese etwa 20,68%. Von meinem Leben ist prozentual gesehen also schon mehr verstrichen, als von meinem Jahr in Indien. Da sind es nämlich derzeit so um die 17%.

 Ich habe also noch ungefähr 80% meines Lebens auf der Erde, sowie in Indien vor mir und ich bin mir nicht sicher, ob das viel oder wenig ist.  Ist auch eigentlich Unsinn, sich darüber Gedanken zu machen, weil ich dann erstens nur weitere Zeit verschwende, zweitens kann im Leben sowieso jederzeit was dazwischen kommen, zweieinhalbtens (da ich dieses Argument in abgewandter Form bereits hatte) will ich keine hässlichen Denkfalten auf der Stirn, sonst muss ich am Ende noch mit 40 mit diesem kindischen Pony rumlaufen, drittens habe ich eh gelogen bei den Angaben zur Berechnung meiner Lebenserwartung, viertens freue ich mich jetzt schon auf meinen 21. Geburtstag, da kann ich nämlich in Las Vegas am Pokertisch Cocktails schlürfen, viertens werde ich mich jetzt wieder in die Sonne setzen um die 80% nicht am Schreibtisch zu verbringen und fünftens……ist mir soeben entfallen.


Dienstag, 1. November 2011

Another 3 minutes in the brain of Birte


Heimweh.

“Heimweh”, so lautet ein Spruch, “ist wie ein See. Du kannst selbst entscheiden, ob du reinspringst, oder am Ufer stehen bleibst.“

Möglicherweise hat diese Aussage keinerlei Wahrheitsgehalt.

Vielleicht hat sich das jemand ausgedacht, um Menschen den Mut zu geben, sich überhaupt in eine Situation zu begeben, in der man Heimweh bekommen könnte.

Schätzungsweise sollte man solche altklugen Sprüche gar nicht ernst nehmen.

Bestimmt ist das ein Gerücht, das ein bemitleidenswerter, rastloser Einsamer  in die Welt gesetzt hat, der selbst nie ein Zuhause hatte.

Höchst wahrscheinlich will der Autor lediglich vortäuschen, dass man das Heimweh kontrollieren kann und dann Schuldgefühle wecken, falls es nicht klappt.

Das muss eine verdammte Lüge sein, die sich irgendein egoistischer und selbstverliebter Schwachmat zusammengesponnen hat, weil er  Angst vor seinen eigenen Gefühlen hatte!

„Ok, Birte, mag  sein, dass dir der Spruch nicht gefällt. Aber glaub mir, er ist nicht gänzlich unwahr.“, sagte das Heimweh-Männchen. „Oh, nein, ich mag den Spruch. Sehr sogar. Ich fürchte mich lediglich vor dem Moment, an dem ich der Versuchung, mit voller Wucht ins Wasser zu springen, nicht mehr widerstehen kann.“
Lautes Lachen ertönte. „Aber siehst du denn nicht, dass wir bereits seit über 50 Tagen schwimmen? Denn wenn dein Heimweh ein See ist, so ist dein Fernweh ein ganzer Ozean!“, sagte das Heimweh-Männchen, nahm Anlauf und sprang quietschend und mit voller Wucht in den Ozean.