Eieiei! Es ist ja so viel passiert in den letzten Tagen…
Doch die größte Sensation von allen ist eindeutig die, das nun endlich wieder Busse fahren!! Nach etwa vier Wochen, in denen es mir quasi unmöglich war das Heim und das Kaff zu verlassen, steht mir nun das Tor zu großen weiten Welt wieder offen, zumindest fühlt es sich so an. Und abgesehen davon, hat die Sache mit dem Busfahren auch einen sehr angenehmen Nebeneffekt: man lernt Menschen kennen. So hab ich am Mittwoch auf der etwa einstündigen Fahrt nach Tarnaka mit Fatima, eine jungen Grundschullehrerin, und ihrer Freundin, deren Namen ich zu meiner Schande vergessen habe, Bekanntschaft geschlossen. Wir konnten uns einigermaßen passabel unterhalten, was wirklich eine positive Abwechslung darstellte, da das in der Regel aufgrund der sehr geringen Englisch-Kenntnisse und dazu der…nun ja…sagen wir mal „anderen“ Aussprache der Inder nicht möglich ist, bzw. eine Unterhaltung nicht über „How are you?“ und „Where do you come from?“ hinausgeht. Fatima hat mir ständig gesagt, wie „sweet“ ich doch sei und uns (Alma und mich) dann schließlich zu sich nach Hause eingeladen, woraufhin wir unsere Nummern getauscht haben. „Waiting for your call!“ war das letzte was sie sagte, bevor sie sich mit einem breiten Grinsen verabschiedete.
Im Office unserer Organisation angekommen, hatten Alma und ich dann ein längeres Gespräch mit unserer Chefin Sumitra über unsere zukünftige Wohnsituation, weil es doch oft nicht einfach ist, hier zu leben, auf engstem Raum mit der indischen Kultur, teilweise ohne Rückzugsmöglichkeiten, unter lauter Fremden, die einen so gut wie gar nicht verstehen, mitten im Nirgendwo. Jedenfalls war das Ergebnis unseres Gespräches, dass wir hier bleiben, da die Stadt zu weit weg vom Heim ist und es im Office für uns nichts zu tun gibt. Allerdings werden wir zum einen nun häufiger (dem Ende des Busstreiks sei Dank!) in die Stadt fahren und eventuell auch mal übers Wochenende in ein Hostel ziehen um auch noch eine andere Seite Indiens zu sehen, die das Leben für uns als „Westler“ um einiges vereinfacht! Denn als wir dann zu zweit loszogen, fühlten wir uns wie Kaspar Hauser, als er zum ersten Mal das Tageslicht sah, wie eine junge Mutter, die nach Schwangerschaft und Stillzeit endlich wieder Alkohol trinken darf, wie Benjamin Blümchen, als er nach zwei Monaten Zucker-Entzug von seinem Freund Otto zum Geburtstag einen ganzen Berg Zuckerstückchen bekommt, wie Christoph Kolumbus, als er Amerika entdeckte, wie Fabian Hambüchen, der nach einer Verletzung für 5 Wochen nicht trainieren konnte, wie Kurt Cobain, als er das erste Mal Drogen konsumierte.
Denn was Deep Purple ohne „Smoke on the water“ ist, was Bibi Blocksberg ohne ihren Besen Kartoffelbrei ist, was Pünktchen ohne Anton ist, das bin ich ohne ein Minimum an westlichen Gewohnheiten.
Ich hätte ohne weiteres in einen extremen Kaufrausch verfallen können, doch ich konnte mich beherrschen, sodass es nur ein recht großer Kaufrausch wurde. Wir setzten uns zum ersten Mal in eine Art Cafe und tranken etwas, wir kauften in einer indischen Konditorei massenweise (ok, in diesem Fall spreche ich nur von mir…) Süßigkeiten, fanden eine Buchhandlung und schließlich das indische „Real“, das sich hier „Big Bazaar“ nennt. Wir mussten unsere Taschen an einer Garderobe abgeben und durch eine Sicherheitssschläuse gehen, die der am Flughafen in nichts nachsteht (inklusive Abtasten!). Doch was unsere Augen dann erblickten, ließ meinen Atem stocken und dennoch stand ich gleichzeitig kurz vor dem Hyperventilieren. Die oberen drei oder vier Etagen hatten wir schnell durchforstet, denn eigentlich wollten wir nur unsere Vorfreude auf das Untergeschoss, wo es Nahrungsmittel gab, ins Unermessliche steigern, was uns tatsächlich gelang.
Es gab echte (!!!) Cola, es gab Käse, Nudeln, Nutella, Erdnussbutter, Ritter Sport, Chips – kurz: Es gibt alles, was man zum Leben braucht! Der Wahnsinn!! Seit 38 Tagen habe ich quasi vegan gelebt (mal abgesehen von dem Schluck Milch in meinem Tee), drei Mal täglich Reis gegessen, mal mit Blättern, mal mit Bohnen, mal mit Erbsen oder sämtlichem vergleichbaren Gemüse, dass ich zuvor nicht kannte. Immer scharf, nie einen Tropfen Öl oder einen Krümel Zucker mehr, als unbedingt notwendig, immer stilles Wasser (außer der Fake-Cola, die ich mir zwei Mal geholt hatte). Nein, ihr könnt euch nicht vorstellen, was das für ein Gefühl war!
Und zu eurer großen, aber meiner noch viel größeren Verwunderung konnte ich von den allermeisten Sachen die Finger lassen. Denn als ich es so sah, alles auf einem Haufen, der totale Überfluss, da stellte ich fest, dass ich doch irgendwie noch drauf verzichten kann. Natürlich nicht auf alles. Ich kaufte mir kleine Kuchen, Cola und Bonbons. Keinen Käse (der war mir auch ehrlich gesagt zu teuer), kein Nutella, keine Schokolade. Ich wusste einfach, dass ich mich in einem anderen Moment noch viel mehr über diese Dinge freuen würde, es war einfach noch nicht an der Zeit.
Dann gingen wir mit etwa acht Tüten beladen und ziemlich erschöpft zurück ins Office. Ich war einerseits überglücklich, habe mich andererseits aber auch noch nie in meinem Leben so ausländisch gefühlt. Ich bin der weiße Touri, der wirklich alle Klischees erfüllt, von der teuren Cola bis hin zur Sonnenbrille. Aber ich konnte mich mit dem Gedanken arrangieren, denn ich wusste, dass dieser Moment vergänglich ist, und dass ich ansonsten ein ziemlich indisches leben hier führe, vom Reis bis zum Yoga.
Da wir noch nicht selbstständig Busfahren können, weil es keinen Fahrplan gibt und man blitzschnell reagieren muss, wenn der richtige Bus kommt, da sie immer nur für Sekundenbruchteile, so scheint es, anhalten (die meisten steigen während der Fahrt zu), kam Saramma, ein 14-jähriges und ziemlich kleines Mädchen aus dem Heim mit uns. Und schon wurde mir bestätigt, dass das Gefühl vom Klischee-Touri vergänglich ist. Denn wir sahen nun aus wie Frodo und Sam, die von Gollum nach Mordor geführt werden, um den Ring ins Feuer zu werfen, nur sahen wir natürlich tausend Mal besser aus! Zumindest ich war völlig orientierungslos, mit Essen bepackt und erschöpft. (An dieser Stelle könnte ich jetzt auch eine klasse Parallele zwischen Mordor und Bogaram ziehen, doch ich glaube ich wäre nur noch frustierter von dem Ergebnis, wenn mir auffällt, dass es einfacher gewesen wäre, die Unterschiede aufzuzeigen.)
Auch die Rückfahrt im Bus war wieder ein Erlebnis. Es war eng, heiß, alle schwitzten, es stank, klebte, war dreckig. Ich stand im Gang mit meinen Tüten und meiner braunen Umhängetasche und stellte mal wieder fest, welche Vorteile es hat, klein zu sein. Ich versank in Gedanken und legte in meinem Kopf die Reihenfolge fest, in der ich meine Süßigkeiten verspeisen würde, als ich plötzlich heftig angerempelt wurde. Der Fahrscheinverkäufer. Und ich stand wohl im Weg. Er beschimpfte mich, ich verstand natürlich kein Wort. Ich wusste nicht, ob ich vor oder zurück sollte, weil eigentlich keins von beidem möglich war, weil es viel zu eng war und überall Menschen standen. Er brüllte und gestikulierte wild umher, doch ich war einfach überfordert. Dann sah ich eine kleine zierliche Frau die mir ein Handzeichen gab, das ich verstand: ich sollte mich zu ihr setzen. Natürlich war dort eigentlich kein Platz mehr, doch ich hatte ja auch keine Alternative. Also saßen wir mit vier erwachsenen Menschen auf zwei Sitzplätzen. Die Tatsache, dass ich unmöglich entfliehen konnte, weil ich einerseits Angst vor dem Kontrolleur hatte und ich andererseits zwischen den Menschen feststeckte und bewegungsunfähig war, wurde schamlos ausgenutzt. Ich wurde bombardiert mit Fragen! Von mindesten drei Personen gleichzeitig. Bitte nicht falsch verstehen: Sie waren alle unglaublich nett, aber es war nicht einfach für mich, wo mir offensichtlich schon die „Multitasking-Fähigkeit“ fehlt, nun auch noch die „Endlesstasking-Fähigkeit“ an den Tag zu legen. Zwischen allen möglichen Fragen, die ich schon kannte und die sich in aller Regel auf meine Herkunft bezogen und meine Arbeit hier in Indien, stach eine Frage hervor. Es war die nach einem Autogramm von mir. Ich musste lachen und fragte die Frau, ob sie das ernst meint, woraufhin sie energisch bejahte. Nun gut, dachte ich mir, es gibt ja genug Gründe, um von dir ein Autogramm zu wollen! Also nahm ich den Stift, den sie mir reichte und gab zum ersten Mal in meinem Leben ein richtiges Autogramm und das, ohne jemanden dafür zu bezahlen, dass er es nimmt! In diesem Moment fiel nicht nur meine eigene Hemmschwelle, sondern auch die der anderen Menschen im Bus. Ich gab also fünf weitere Autogramme. Dann ging es weiter mit der Bitte um meine Handynummer, die ich allerdings ablehnte und stattdessen „nur“ meine E-Mail-Adresse rausgab.
Trotz all der tollen und beeindruckenden Erfahrungen, war ich froh, am Abend wieder im Heim anzukommen. Alles in allem war es ein guter Tag.
Um langsam zum Schluss zu kommen, hier noch in Stichpunkten, was ich in den letzten Tagen festgestellt oder gelernt habe:
-„Baby Hair Oil“ von Johnson´s ist der letzte Scheiß! Ich wollte gepflegtes, weiches Haar und jetzt ist es einfach nur extrem fettig! Zum Glück hab ich es nur in die Spitzen geschmiert…Naja, immerhin ist jetzt mein Rücken an der Stelle, wo meine Haare sind, wenn ich sie offen trage, samtweich und wie eingecremt!
-Piercings sollte man sich nicht mit einer Pistole stechen lassen, das ist zu gefährlich!
-Coca-Cola gehört die Welt! Die verkaufen hier echt ALLES!
-Die Inder sind nicht gerade geschäftstüchtig: Statt mit der Riksha einfach zweimal zu fahren, wartet man eine halbe Stunde, um sie bis zum letzten Millimeter vollzustopfen. Leider ist das einigen zu lang, sodass sie mit dem Bus fahren. Am Ende ist die Riksha dann nur noch halb voll.
Und:
-Angeblich gibt es in unmittelbarer Nähe unseres Heimes freilebende Elefanten und Tiger! (Ich zu Manasa: „Oh, I wanna see a tiger! Can I go there?“ – Manasa ganz trocken: “Oh, sister, you are so sick!”)