Sonntag, 3. Juni 2012

Armut (Ein Versuch)



Lange habe ich dieses Thema umgangen, es schlichtweg nicht erwähnt. Doch wir alle wissen, dass Indien ein sogenanntes Entwicklungsland ist, hier gibt es Armut. Bittere Armut.
Ich rede nicht davon, dass sich 50 Kinder eine Flasche Sprite teilen, sodass jedes den Inhalt des Verschlussdeckels trinken darf oder davon, dass die Mädchen hier teilweise zu dritt in einem Bett schlafen – nein.

Heute möchte ich über Armut berichten.

Ich lebe seit nun fast 9 Monaten in Indien. Es waren die 9 intensivsten Monate meines Lebens. Und genau jetzt fühle ich mich, ob berechtigt oder unberechtigt sei an dieser Stelle unbedeutend, dazu in der Lage, etwas über dieses unendlich heikle und kontroverse Thema zu schreiben.

Vielleicht hätte ich es noch ewig vor mir hergeschoben, wahrscheinlich hätte ich es letzten Endes nie wirklich behandelt. Doch dann kam dieser eine Tag, der mir so viele Eindrücke und Erkenntnisse bescherte, die es mir jetzt unmöglich machen, darüber zu schweigen. Ich muss mich mitteilen, weil ich gerne dramatische Geschichten erzähle. Doch diesmal, so glaube ich, ist es mehr. Diesmal geht es um Aufarbeitung, um Gewissensbereinigung und letztendlich um Moral.

Es war gestern. Ich bin mit drei der älteren Mädchen früh morgens zum Tempel gelaufen um die wöchentlichen Gebetsprozeduren (sorry, mir fällt kein besseres Wort dafür ein)zu vollziehen. Des Weiteren wollten wir auf dem Rückweg noch unsere Torwächterin und deren Töchter besuchen, die ebenfalls während der Schulzeit im Heim leben.

Mir war ja immer klar, dass dieses Heim hier, so krass wie es für manchen klingen mag, ziemlich privilegiert ist. Schon alleine deshalb weil es jeden Tag etwas zu essen gibt und wir fließendes Wasser, Strom und Gas haben. Ich wusste, dass es vielen Menschen in meinem direkten Umfeld viel schlechter geht, dass die meisten Menschen, die mir hier begegnen gerade so am Existenzminimum leben. Aber was ich gestern sah, dass raubte mir schlichtweg den Atem. Es raubte mir auch den letzten Fetzen Naivität und vor allem raubte es mir die Fähigkeit, mein Gewissen abzustellen. Bisher konnte ich mir immer irgendwie einreden, dass „die“ trotzdem glücklich sind, dass „die“ das selbst gar nicht so schlimm finden und dass „die“ vielleicht eines Tages a la Slumdog Millionair doch noch die Kurve kriegen.

Wer bisher auch so dachte und wer nicht bereit ist, sich vor dieser Wahrnehmung zu verabschieden, sollte vielleicht besser nicht weiterlesen. Hätte ich jetzt nochmal die Wahl, ich glaube ich hätte gerne an meinem alten, einfachen Weltbild festgehalten…

Doch stattdessen trieb mich irgendetwas an den Ort, der jeden Versuch des Optimismus im Keim erstickte, nein, der gar nicht erst den Boden bereitstellte, um Optimismus zu pflanzen – ich war im Ghetto.

Ich habe nun schon einige sogenannte Slums gesehen – besonders in der letzten Zeit. Und auch obwohl dort ebenfalls große Armut herrscht, es ist doch irgendwie nicht vergleichbar und ich kann nicht einmal sagen warum. Ich will auch nichts beschönigen, wahrscheinlich ist es lediglich meine ganz persönliche Wahrnehmung, doch ich fand die Stunden im Ghetto krasser als alles andere zuvor.

Ich laufe auf großen Betonplatten zwischen den insgesamt 18 riesigen, exakt identischen Wohnblocks hindurch. Eines der Mädchen berichtet mir, dass die Regierung diese Blocks hat bauen lassen, jedoch ohne irgendwie zu regeln, wer darin wohnen darf und vor allem: wer nicht.
Ich biege ab und stolpere fast über ein Mädchen, welches am Boden liegt. Untenrum ist sie nackt. Sie ist völlig verdreckt, hat Wunden, scheint irgendeine Art Ausschlag zu haben. Sie ist völlig unbeweglich, Ihr Gesicht liegt in Erbrochenem, der Rest des Körpers in flüssigem Kot.

Ich gehe weiter.

Eine Frau bittet mich in ihre Wohnung, offenbar scheint sie sehr stolz darauf zu sein. Ich betrete einen etwa neun Quadratmeter großen Raum, ohne Fenster. Die Wände sind, bis auf das Poster von Ganesh, völlig kahl. Es stinkt bestialisch. Sieben Menschen schlafen hier jeden Tag, berichtet sie. Obwohl die Wohnung nicht dreckig ist, es kommen starke Gefühle von Ekel in mir hoch.

Ich gehe weiter.

Ich sehe eine Gruppe von Jungen, die alle etwa 14 Jahre alt sind. Sie fassen sich auffällig in den Schritt, als sie mich sehen, rufen mir irgendetwas auf Telugu zu. Drei Jungen kommen sogar auf mich zu und greifen fest an meinen Hintern. Ich schlage die Hände weg, sie zu ohrfeigen schaffe ich diesmal nicht. Irgendwie habe ich Angst vor ihnen, denn alles in ihren Augen sagt mir, dass sie nichts mehr zu verlieren haben.

Ich gehe weiter.

Eine weitere Gruppe Jugendlicher steht an einer Hauswand und prügelt unaufhörlich auf jemanden ein, ich kann nicht mal erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Das Opfer wehrt sich nicht, es gibt nicht einmal mehr Laute von sich.

Ich gehe weiter.

Gemeinsam mit den Mädchen betrete ich nun ein weiteres Gebäude, wo auch unsere Torwächterin Nagomanie wohnt. Das gleiche Bild wie vorher: ein stinkender, dunkler Raum. Zwei etwa 70 Jährige liegen auf dem feuchten Betonboden und schlafen. Beim Rausgehen fällt mein Blick in die gegenüberliegende Wohnung. Zwei kleine Kinder, vielleicht drei und fünf kriechen auf dem Boden herum. Daneben steht ein Mann. Er hat beide Hände in seiner Hose. Das war der widerlichste Blick den ich jemals gesehen habe.

Ich gehe weiter.


Als ich das Ghetto verlasse, drehe ich mich noch einmal um: Das Mädchen liegt immer noch unbeweglich da.





Keine Angst, ich bin kein neuer Mensch geworden, kann immer noch fröhlich, albern und unbeschwert sein.

Oder ist es vielleicht genau das, was einem Angst machen sollte? Dass man unberührbar ist? Dass ich völlig kalt bin, nicht mal mit der Wimper zucke wenn mich eine Mutter mit Baby auf dem Arm anfleht, ihr Geld für Nahrung zu geben. Ich schaue noch nicht einmal beschämt weg oder versuche, dieser  Situation aus dem Weg zu gehen – ich schaue ihr direkt in die Augen und sage „No.“.

Ich bin verroht.

Was mir einst mein höchstes Gut war, bröckelt unaufhaltsam unter meinen Füßen: meine Moral. Ich beginne zu wanken, komme an Punkte wo ich mich regelrecht dafür schäme dieses unendlich privilegierte Leben zu haben, wo ich mich für meine Herkunft schäme, für mein Land (sofern es das überhaupt noch ist) und für meine selbstgerechte Art. Und im nächsten Moment rege ich mich unendlich darüber auf, dass das Internet so langsam ist.

Paradox?

Oh Mann, wie sehr sehne ich mich doch manchmal nach den Tagen, an denen ich in Deutschland auf dem Sofa saß und auf alle Fragen Antworten hatte.

Doch jetzt weiß ich, wer glaubt, die Welt zu verstehen, der hat sie noch nie richtig gesehen.

Ich weiß nicht, was du machen würdest aber…


Ich gehe weiter.

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