Samstag, 5. Mai 2012

Wie mir Gruppenzwang zum Glück verhalf


„Priya, Priya, Priya….!!!“

Hände klatschen, die Kirche tobt. Ich gehe schüchtern nach vorne. Jeder Schritt wird von etwa 150 Menschen bejubelt. Für den Bruchteil einer Sekunde schließe ich die Augen und atme tief ein und aus – mehr Zeit bleibt nicht. Ich versuche abzuschalten, mich auf meinen Atem zu konzentrieren, doch mein lauter, viel zu schneller Herzschlag verhindert jedes „zur Ruhe kommen“.
Ich will das nicht. Echt jetzt.
Langsamer zu gehen würde bedeuten, stehen zu bleiben. Und so lässt es sich nicht vermeiden, dass der Weg irgendwann zu Ende ist. Jetzt stehe ich vorne. Ein kurzes, pseudofreundliches Zunicken, dann drehe ich mich langsam um und blicke in die erwartungsvollen Gesichter. Ich greife nach vorne und umfasse mit beiden Händen das Mikrofon, dass ich nun immer näher vor meinen Mund führe.
Ich atme ein, dann öffnen sich meine Lippen.

Stopp! Zurückspulen! Am Abend vorher:

Navaneetha kommt aufgeregt zu mir gerannt: „Sister, sister, tomorrow marriage, you coming?“
Und wie ich komme! Darauf hab ich schließlich schon ewig gewartet: endlich eine indische Hochzeit erleben! Der Onkel eines Mädchens aus dem Heim heiratet und läd das gesamte Mädchenheim ein (nur, um sich mal der Dimensionen einer indischen Hochzeit bewusst zu werden…)

Und so kommt es, dass ich heute Morgen, gemeinsam mit 14 Mädchen aus dem Heim eine knallepinke Kirche betrete, aus der laue Gitarrenklänge kommen. Wir ziehen die Schuhe aus und gehen rein. Wie automatisch richtet sich mein erster Blick darauf, auf welcher Seite die Frauen sitzen, schließlich ist hier alles nach Geschlechtern getrennt. Dann erst schaue ich mich um: Die ganze Kirche glitzert und funkelt. Vorne steht eine Bühne mit zwei Thronen in königlichem Rot und mit etlichen Glitzersteinen verziert, auf denen später das Brautpaar sitzen sollte.

In der rechten vorderen Ecke spielt eine..äh…Musikgruppe (Wenn ich von Band sprechen würde, wäre das für alle echten eine grobe Beleidigung…!)
Man stelle sich vor: Kirchenmusik im Stile der 90er Jahre Elektroszene, ein 16 jähriger Junge der noch mitten im Stimmbruch zu stecken scheint, ein narzisstischer Gitarrist, der offensichtlich einen internen Lautstärke-Wettkampf mit dem Schlagzeuger ausfechtet und das alles verstärkt von acht riiiieeesigen Boxen, sodass man nicht nur sein eigenes Wort nicht mehr hören kann, sondern auch jede Gedanken bei der Lautstärke kläglich verstummen. Das ist definitiv Körperverletzung! Ich habe Kopfweh und bin genervt von den Basstönen, die meinen gesamten Körper zum Vibrieren bringen. Das ganze Gedudel muss ich exakt 53 Minuten ertragen. Als der erste Funke Hoffnung auf Erlösung aufkeimt, passiert etwas Furchtbares: 4 Frauen, die locker das Format der Weathergirls haben, quetschen sich vor den Mikrofonständer. Würde man an schlechtem Gesang sterben, ich könnte diesen Blogeintrag nicht mehr verfassen.
Sie singen mal locker zwei Oktaven höher, als es ihre Stimme zulässt und schreien dabei was das Zeug hält, aus Angst nicht gehört zu werden. Eine Mischung aus den Schlümpfen, Modern Talking und DJ Bobo - Ich bin kurz davor, die Kirche zu verlassen.

Plötzlich springen alle auf: Der Bräutigam betritt die Kirche, schlendert nach vorne und setzt sich auf seinen Thron. Wenig später folg seine Zukünftige. Täusche ich mich, oder hat der Bräutigam diesen gewissen Blick, dieses zuversichtliche Hochziehen einer seitlichen Mundpartie a la „Heute Abend kann ich die Alte endlich flachlegen!“?

Der Gottesdienst beginnt – es handelt sich um eine christliche Hochzeit, es handelt sich um eine arrangierte Hochzeit. Während ein Mann im goldenen Glitzeranzug vorne an der Kanzel rumhampelt wie Christian Rach, wenn ihm das Schnitzel nicht schmeckt und zwischenzeitlich Ausraster hat wie Jürgen Klinsmann im Endspiel gegen Italien, blicke ich mich im Publikum um. Es werden Chips gegessen, SMS geschrieben und lauthals geredet. Der Brautvater, der sich besonders schick gemacht hat (passend zu seinem weißen Anzug trägt er eine gleichfarbige Mütze mit der großen Inschrift „Tic Tac“), stolziert durchgängig auf und ab und versorgt den ganzen Raum mit Wasser.
Der Gottesdienst dauert ewig. Kurz vor dem Einschlafen schrecke ich auf: Die Dame neben mir stellt sich hin und geht sicheren Schrittes nach vorne. Sie positioniert sich vor dem Mikrofon und hält eine Rede, die ich natürlich aufgrund meiner geringen Telugu-Kenntnisse nicht verstehe. Weitere Reden von Gästen werden gehalten. Ich bin gelangweilt.

 Der Brautvater kommt auf mich zu.

„Do you want to say something?”, fragt er und deutet dabei auf das Mikrofon.

„Me? Oh no, thank you, I cannot talk Telugu, so I guess most of the people won’t understand…”, entgegne ich. Dann höre ich eine mir bekannte Stimme, die für sofortige Atemnot und schwitzende Hände bei mir sorgt.

„But Priya sister can sing a song!”, schlägt eines der Mädchen aus dem Heim vor.

 Während auf diesen Vorschlag hin die ersten anfangen, begeistert in die Hände zu klatschen, überlege ich ernsthaft ob ich dem Mädchen eine klatschen soll…!

„No, no!! Please, I really don’t want to sing!“

Tja, und jetzt sind wir wieder am Anfang der Geschichte.

Nun stehe ich also da, wie ein Häufchen Elend. Für die ersten Töne schließe ich meine Augen. Als ich diese wieder öffne, bin ich selbstbewusst und genieße gewissermaßen den Augenblick.

„Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten…….“, singe ich laut, klar und deutlich vor den 150 Hochzeitsgästen.

„Frei ist, wer in Ketten tanzen kann“, hat mir meine Strahli in mein Abschieds-Buch geschrieben. Ich hab keine Ahnung, ob der Satz zur Situation passt, aber aus irgendwelchen Gründen kommt er mir in den Sinn. 

Als ich die letzte Zeile gesungen habe herrscht für den Bruchteil einer Sekunde absolute Stille. Dieser Moment ist der schönste seit langer Zeit. Die Vorfreude auf den Applaus, die Anerkennung und vor allem der Stolz auf mich selbst lassen diese paar Millisekunden unvergesslich machen.
Ich gehe zurück auf meinen Platz, bin wie befreit, gelöst und einfach glücklich.

Der Rest des Gottesdienstes verstreicht, ohne dass ich ihn so wirklich wahrnehme. Dann gibt’s endlich Essen. Natürlich speisen Männer und Frauen und getrennten Räumen (die Damen müssen natürlich in den Keller!). Es gibt Schafs-Curry mit Reis – für den Großteil der Gäste das absolute Highlight, ich hingegen freue mich über die Kartoffeln in der Chilisoße.  Nachtisch gibt’s auch: Herrlich, endlich wieder Zucker (schließlich lebe ich jetzt seit 26 Tagen schnuckifrei!)!!!

Dann geht’s auch wieder heim, mit vollem Magen, jeder Menge Endorphine und der Frage, warum Gruppenzwang ein so negativ besetztes Wort ist…?

3 Kommentare:

  1. Moment mal, Fräulein? Ist Nachtisch nicht schnucken?? (außerdem wissen doch die meisten Menschen gar nicht was schnucken ist. SCHNUCKEN IST SÜßIGKEITEN ZU SICH NEMHEN ;)

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  2. nein, nachtisch ist definitiv kein schnucki, frag hannes, den vorsitzen des FBS (=federal bureau of schnucki)!

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  3. hey birte... dein blogeintrag zu lesen tut wirklich immer gut, trotz des gleichen landes nehmen wir die dinge unterschiedlich wahr und trotzdem finden sich soviele parallelen (wobei ich erst seit vier wochen hier friste und mich jedentag frage, ob ich es auch soweit schaffe wie du). Habe deine blogeinträge schon vorher verfogt, um mich auf die reise vorzubereiten, aber wie es so oft ist: es ist immer GANZ anders, wenn man drin steckt. Wollte dich schon so lange kontaktieren, aber irgendwie sind unsere eltern in ihrer absprache was den ausstausch unserer e-mailadressen und handynummern angeht ein wenig unkoordiniert (hierbei entschuldige ich mich jetzt schon bei brunni und meiner mama für diese aussage, ich weiß ihr habt viel zu tun und ihr seit toll :-D) deswegen kontakiere ich dich auf diesem weg... meld dich doch mal bei mir, hab von rahel gehört ihr kommt im juni nach chennai würde mich sehr freun euch zu sehen oder mich mal mit dir oder euch kurz zuschließen :-)
    Meine mailadresse ist jasmin_meister@gmx.net und meine indische handynummer weiß ich (welch eine überraschung) grad nicht auswendig, schick sie dir aber auf jedenfall noch oder du schickst mir einfach per mail deine... bleib weiterhin tapfer, meinen Respekt hast du auf jedenfall, dass du das alleine solange Zeit durchziehst (jetzt weiß ich ja wovon ich rede) Freu mich von dir zu und deine Sicht der Dinge unmittelbar zu hören.

    Jasmin

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