„Priya, Priya, Priya….!!!“
Ich will das nicht. Echt jetzt.
Langsamer zu gehen würde bedeuten, stehen zu bleiben. Und so
lässt es sich nicht vermeiden, dass der Weg irgendwann zu Ende ist. Jetzt stehe
ich vorne. Ein kurzes, pseudofreundliches Zunicken, dann drehe ich mich langsam
um und blicke in die erwartungsvollen Gesichter. Ich greife nach vorne und
umfasse mit beiden Händen das Mikrofon, dass ich nun immer näher vor meinen
Mund führe.
Ich atme ein, dann öffnen sich meine Lippen.
Stopp! Zurückspulen! Am Abend vorher:
Navaneetha kommt aufgeregt zu mir gerannt: „Sister, sister,
tomorrow marriage, you coming?“
Und wie ich komme! Darauf hab ich schließlich schon ewig
gewartet: endlich eine indische Hochzeit erleben! Der Onkel eines Mädchens aus
dem Heim heiratet und läd das gesamte Mädchenheim ein (nur, um sich mal der
Dimensionen einer indischen Hochzeit bewusst zu werden…)
Und so kommt es, dass ich heute Morgen, gemeinsam mit 14
Mädchen aus dem Heim eine knallepinke Kirche betrete, aus der laue
Gitarrenklänge kommen. Wir ziehen die Schuhe aus und gehen rein. Wie
automatisch richtet sich mein erster Blick darauf, auf welcher Seite die Frauen
sitzen, schließlich ist hier alles nach Geschlechtern getrennt. Dann erst
schaue ich mich um: Die ganze Kirche glitzert und funkelt. Vorne steht eine
Bühne mit zwei Thronen in königlichem Rot und mit etlichen Glitzersteinen
verziert, auf denen später das Brautpaar sitzen sollte.
In der rechten vorderen Ecke spielt eine..äh…Musikgruppe
(Wenn ich von Band sprechen würde, wäre das für alle echten eine grobe Beleidigung…!)
Man stelle sich vor: Kirchenmusik im Stile der 90er Jahre
Elektroszene, ein 16 jähriger Junge der noch mitten im Stimmbruch zu stecken
scheint, ein narzisstischer Gitarrist, der offensichtlich einen internen
Lautstärke-Wettkampf mit dem Schlagzeuger ausfechtet und das alles verstärkt
von acht riiiieeesigen Boxen, sodass man nicht nur sein eigenes Wort nicht mehr
hören kann, sondern auch jede Gedanken bei der Lautstärke kläglich verstummen.
Das ist definitiv Körperverletzung! Ich habe Kopfweh und bin genervt von den
Basstönen, die meinen gesamten Körper zum Vibrieren bringen. Das ganze Gedudel
muss ich exakt 53 Minuten ertragen. Als der erste Funke Hoffnung auf Erlösung
aufkeimt, passiert etwas Furchtbares: 4 Frauen, die locker das Format der
Weathergirls haben, quetschen sich vor den Mikrofonständer. Würde man an
schlechtem Gesang sterben, ich könnte diesen Blogeintrag nicht mehr verfassen.
Sie singen mal locker zwei Oktaven höher, als es ihre Stimme
zulässt und schreien dabei was das Zeug hält, aus Angst nicht gehört zu werden.
Eine Mischung aus den Schlümpfen, Modern Talking und DJ Bobo - Ich bin kurz
davor, die Kirche zu verlassen.
Plötzlich springen alle auf: Der Bräutigam betritt die
Kirche, schlendert nach vorne und setzt sich auf seinen Thron. Wenig später
folg seine Zukünftige. Täusche ich mich, oder hat der Bräutigam diesen gewissen
Blick, dieses zuversichtliche Hochziehen einer seitlichen Mundpartie a la
„Heute Abend kann ich die Alte endlich flachlegen!“?
Der Gottesdienst beginnt – es handelt sich um eine
christliche Hochzeit, es handelt sich um eine arrangierte Hochzeit. Während ein
Mann im goldenen Glitzeranzug vorne an der Kanzel rumhampelt wie Christian
Rach, wenn ihm das Schnitzel nicht schmeckt und zwischenzeitlich Ausraster hat
wie Jürgen Klinsmann im Endspiel gegen Italien, blicke ich mich im Publikum um.
Es werden Chips gegessen, SMS geschrieben und lauthals geredet. Der Brautvater,
der sich besonders schick gemacht hat (passend zu seinem weißen Anzug trägt er
eine gleichfarbige Mütze mit der großen Inschrift „Tic Tac“), stolziert
durchgängig auf und ab und versorgt den ganzen Raum mit Wasser.
Der Gottesdienst dauert ewig. Kurz vor dem Einschlafen
schrecke ich auf: Die Dame neben mir stellt sich hin und geht sicheren Schrittes
nach vorne. Sie positioniert sich vor dem Mikrofon und hält eine Rede, die ich
natürlich aufgrund meiner geringen Telugu-Kenntnisse nicht verstehe. Weitere
Reden von Gästen werden gehalten. Ich bin gelangweilt.
Der Brautvater kommt
auf mich zu.
„Do you want to say something?”, fragt er und deutet dabei
auf das Mikrofon.
„Me? Oh no,
thank you, I cannot talk Telugu, so I guess most of the people won’t
understand…”, entgegne ich. Dann höre ich eine mir bekannte Stimme, die
für sofortige Atemnot und schwitzende Hände bei mir sorgt.
„But Priya sister can sing a song!”, schlägt eines der
Mädchen aus dem Heim vor.
Während auf diesen Vorschlag hin die ersten anfangen,
begeistert in die Hände zu klatschen, überlege ich ernsthaft ob ich dem Mädchen
eine klatschen soll…!
„No, no!!
Please, I really don’t want to sing!“
Tja, und jetzt sind wir wieder am Anfang der Geschichte.
Nun stehe ich also da, wie ein Häufchen Elend. Für die
ersten Töne schließe ich meine Augen. Als ich diese wieder öffne, bin ich
selbstbewusst und genieße gewissermaßen den Augenblick.
„Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten…….“, singe ich
laut, klar und deutlich vor den 150 Hochzeitsgästen.
„Frei ist, wer in Ketten tanzen kann“, hat mir meine Strahli
in mein Abschieds-Buch geschrieben. Ich hab keine Ahnung, ob der Satz zur
Situation passt, aber aus irgendwelchen Gründen kommt er mir in den Sinn.
Als
ich die letzte Zeile gesungen habe herrscht für den Bruchteil einer Sekunde absolute
Stille. Dieser Moment ist der schönste seit langer Zeit. Die Vorfreude auf den
Applaus, die Anerkennung und vor allem der Stolz auf mich selbst lassen diese
paar Millisekunden unvergesslich machen.
Ich gehe zurück auf meinen Platz, bin wie befreit, gelöst
und einfach glücklich.
Der Rest des Gottesdienstes verstreicht, ohne dass ich ihn
so wirklich wahrnehme. Dann gibt’s endlich Essen. Natürlich speisen Männer und
Frauen und getrennten Räumen (die Damen müssen natürlich in den Keller!). Es
gibt Schafs-Curry mit Reis – für den Großteil der Gäste das absolute Highlight,
ich hingegen freue mich über die Kartoffeln in der Chilisoße. Nachtisch gibt’s auch: Herrlich, endlich wieder
Zucker (schließlich lebe ich jetzt seit 26 Tagen schnuckifrei!)!!!
Dann geht’s auch wieder heim, mit vollem Magen, jeder Menge Endorphine
und der Frage, warum Gruppenzwang ein so negativ besetztes Wort ist…?
Moment mal, Fräulein? Ist Nachtisch nicht schnucken?? (außerdem wissen doch die meisten Menschen gar nicht was schnucken ist. SCHNUCKEN IST SÜßIGKEITEN ZU SICH NEMHEN ;)
AntwortenLöschennein, nachtisch ist definitiv kein schnucki, frag hannes, den vorsitzen des FBS (=federal bureau of schnucki)!
AntwortenLöschenhey birte... dein blogeintrag zu lesen tut wirklich immer gut, trotz des gleichen landes nehmen wir die dinge unterschiedlich wahr und trotzdem finden sich soviele parallelen (wobei ich erst seit vier wochen hier friste und mich jedentag frage, ob ich es auch soweit schaffe wie du). Habe deine blogeinträge schon vorher verfogt, um mich auf die reise vorzubereiten, aber wie es so oft ist: es ist immer GANZ anders, wenn man drin steckt. Wollte dich schon so lange kontaktieren, aber irgendwie sind unsere eltern in ihrer absprache was den ausstausch unserer e-mailadressen und handynummern angeht ein wenig unkoordiniert (hierbei entschuldige ich mich jetzt schon bei brunni und meiner mama für diese aussage, ich weiß ihr habt viel zu tun und ihr seit toll :-D) deswegen kontakiere ich dich auf diesem weg... meld dich doch mal bei mir, hab von rahel gehört ihr kommt im juni nach chennai würde mich sehr freun euch zu sehen oder mich mal mit dir oder euch kurz zuschließen :-)
AntwortenLöschenMeine mailadresse ist jasmin_meister@gmx.net und meine indische handynummer weiß ich (welch eine überraschung) grad nicht auswendig, schick sie dir aber auf jedenfall noch oder du schickst mir einfach per mail deine... bleib weiterhin tapfer, meinen Respekt hast du auf jedenfall, dass du das alleine solange Zeit durchziehst (jetzt weiß ich ja wovon ich rede) Freu mich von dir zu und deine Sicht der Dinge unmittelbar zu hören.
Jasmin