Freitag, 27. Januar 2012

Über Liebe, Leben und Tod


Ich erinnere mich zurück an eine der längst vergangenen Biostunden, in der es um Adrenalin ging. Wie so oft (eigentlich kann man das auf meine gesamte Schulzeit beziehen) blieb nicht viel vom Gesagten hängen. Doch irgendwo in einer winzigen Gehirnzelle meines Kleinhirns zwischen den Etagen „Was ist der Sinn des Lebens?“ und „Was mache ich nächstes Wochenende?“ hat sich eine Aussage möglicherweise nachhaltig festgesetzt: Wenn sich der Mensch in Gefahr befindet, werden Unmengen von Adrenalin freigesetzt, die diesen dadurch schützen, dass der Körper angespannt ist, jede Zelle abrufbereit, wodurch man viel schneller auf äußere Einflüsse und neue Umstände reagieren kann, sprich: Adrenalin schützt.

Ich blicke mich um und frage mich, was mein Körper wohl tun würde wenn jetzt ein kleiner Stupser von hinten…

Ich merke wie meine Knie weich werden.

Aber nein, ich will ja nichts beschwören, denke ich mir und stelle mir bereits im nächsten Moment die Frage, mit welcher Wahrscheinlichkeit ich wohl überleben würde. Der Zug fährt so circa 120 kmh. Wenn ich Glück hätte und wirklich einfach nur rausfallen würde, wäre ich lediglich mit einem gebrochenen Arm und der Suche aus dem Nirgendwo konfrontiert. Doch sollte mein Körper einem eventuellen Sturz Widerstand leisten, könnte die Geschichte anders ausgehen, zum Beispiel mit der Kollision eines anderen Zuges, oder, was deutlich wahrscheinlicher ist, mit einem der etlichen Bäume die direkt neben den Schienen aus dem Boden ragen. Komisch, über den eigenen Tod nachzudenken und doch strahlen diese Gedanken eine gewisse Faszination aus.

Ohne darüber nachzudenken, greife ich zu meiner Tasche, fahre mit dem rechten Arm durch die lange Schlaufe und lasse sie dann bewusst aus meiner linken Hand gleiten. Da flattert sie nun, neben mir her, im Fahrtwind des Zuges. Mein Bargeld, meine Kreditkarte und mein Reisepass hängen am ledernen Faden, mit nur einer kleinen Bewegung wären sie wohl für immer weg – meine bürokratische Identität, vom Winde verweht. Ich lächle zufrieden, weil ich mich darüber freue, wie unbeschwert ich manchmal sein kann, wie unerwachsen, wie unvernünftig.

Ich ziehe sie wieder zurück ins Innere des Zuges. Noch immer beflügelt von meiner Leichtigkeit rutsche ich nun ein ganzes Stück weiter nach vorne auf die Stufe. Ich blicke nach unten auf die Schienen und versuche herauszufinden, ob mich das ratternde Geräusch der darüberfahrenden Räder nervös macht oder beruhigt. Egal. Ich löse meine Füße vom Brett und lasse die aus dem Zug baumeln. Adrenalin – überall. Wir fahren über eine Brücke, ich schau hinunter und sehe meine schwebenden Beine vor dem Hintergrund eines reißenden Flusses etwa 30 Meter unter mir.

Und jetzt realisiere ich erst, dass mit nur einer falschen Bewegung alles vorbei sein könnte. Und der Gedanke macht mich glücklich.

Was du als lebensmüde bezeichnen würdest, ist für mich nur eines: lebensbejahend.

Denn was mich so an diesem Leben fasziniert, was es für mich so lebenswert macht ist einzig und allein die Tatsache, dass es vergänglich ist und dass in einer einzigen Sekunde plötzlich alles vorbei sein könnte. Das ist der Reiz des Lebens, zumindest meines Lebens.

Ich beginne zu verstehen, was Alma gemeint hat, als sie sagte, sie habe sich wieder in ihr Leben verliebt. Denn hinter dem ganzen Adrenalin in meinem Körper versteckt sich auch jede Menge Glück. Ich begreife mein Leben als ein Geschenk. Und ich liebe es, weil ich frei entscheiden kann, was ich damit anfangen will, weil ich selbst entscheiden kann, ob ich die Tasche loslasse, ob ich die Beine baumeln lasse oder ob ich aus dem Zug springe.
Die Sonne geht unter und mein Blick streift über Chili-Felder, die bis zum Horizont reichen, über Kuhherden, die durch die Bäche laufen, über Menschen, die große Gefäße auf ihrem Kopf transportieren, über Ochsenkarren, die Reissäcke transportieren.

Die Melancholie in mir befiehlt meinen Augen, ein paar Freudentränchen auszustoßen, um diesen Moment endgültig einzigartig zu machen, ich ergebe mich ihr, sie hat die besseren Argumente.

Ich greife zu meiner Tasche, ziehe meinen Ipod heraus, und drücke „play“: Iggy Pop – The Passenger.

Und auch, wenn gerade alles traumhaft schön ist, vielleicht sogar perfekt – ich würde die Zeit nicht anhalten wollen, selbst wenn ich es könnte. Denn es warten ja noch so viele weitere perfekte Momente auf mich und die können immer nur dann perfekt sein, wenn man im Hinterkopf hat, dass sie jederzeit wieder vorbei sein können, eben wie das Leben selbst. Ich lasse die Hände los und wieder kribbelt es überall. Und jetzt wird mir klar, dass es nicht schlimm wäre, wenn ich jetzt sterben würde, dass ich keine Angst vor dem Tod habe. Denn solange ich in einem Moment sterbe, in dem ich gerade gelebt habe, ist alles gut, dann hätte ich nichts worüber ich mich ärgern würde, dann würde ich nichts bereuen.

Eine tolle Erkenntnis, die mich hoffentlich nie wieder verlässt.
Gleich muss ich aufstehen und aussteigen, diesen für mich magischen Moment beenden. Deshalb noch ein letztes Mal die Augen schließen und alles aufsaugen was geht.

Denn: „I am the passenger and I ride and I ride…”

2 Kommentare:

  1. Gänsehaut!
    Und ich kann nicht sagen warum, nur dass es unglaublich gut und ergreifend geschrieben ist! Und so berührend und schön und irgendwie auch traurig, aber das nur ein ganz kleines bisschen. Du hast auf jeden Fall ein ganz, ganz großes Talent das was du sagen willst genau mit den Worten auszudrücken die das gefühl vermitteln das vermittelt werden soll - ich hoffe du verstehst was ich meine!
    Fühl dich gedrückt!

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    1. danke, danke :) hab ihn noch auf der fahrt geschrieben. fühl dich so, als würde ich dich zurück drücken (du weißt ja, dass du dafür meine optimale partnerin bist!) <3

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