Lange habe ich dieses Thema umgangen, es
schlichtweg nicht erwähnt. Doch wir alle wissen, dass Indien ein sogenanntes
Entwicklungsland ist, hier gibt es Armut. Bittere Armut.
Ich rede nicht davon, dass sich 50 Kinder eine
Flasche Sprite teilen, sodass jedes den Inhalt des Verschlussdeckels trinken
darf oder davon, dass die Mädchen hier teilweise zu dritt in einem Bett
schlafen – nein.
Heute möchte ich über Armut berichten.
Ich lebe seit nun fast 9 Monaten in Indien. Es
waren die 9 intensivsten Monate meines Lebens. Und genau jetzt fühle ich mich,
ob berechtigt oder unberechtigt sei an dieser Stelle unbedeutend, dazu in der
Lage, etwas über dieses unendlich heikle und kontroverse Thema zu schreiben.
Vielleicht hätte ich es noch ewig vor mir
hergeschoben, wahrscheinlich hätte ich es letzten Endes nie wirklich behandelt.
Doch dann kam dieser eine Tag, der mir so viele Eindrücke und Erkenntnisse
bescherte, die es mir jetzt unmöglich machen, darüber zu schweigen. Ich muss
mich mitteilen, weil ich gerne dramatische Geschichten erzähle. Doch diesmal,
so glaube ich, ist es mehr. Diesmal geht es um Aufarbeitung, um
Gewissensbereinigung und letztendlich um Moral.
Es war gestern. Ich bin mit drei der älteren
Mädchen früh morgens zum Tempel gelaufen um die wöchentlichen Gebetsprozeduren
(sorry, mir fällt kein besseres Wort dafür ein)zu vollziehen. Des Weiteren
wollten wir auf dem Rückweg noch unsere Torwächterin und deren Töchter
besuchen, die ebenfalls während der Schulzeit im Heim leben.
Mir war ja immer klar, dass dieses Heim hier,
so krass wie es für manchen klingen mag, ziemlich privilegiert ist. Schon
alleine deshalb weil es jeden Tag etwas zu essen gibt und wir fließendes
Wasser, Strom und Gas haben. Ich wusste, dass es vielen Menschen in meinem
direkten Umfeld viel schlechter geht, dass die meisten Menschen, die mir hier
begegnen gerade so am Existenzminimum leben. Aber was ich gestern sah, dass
raubte mir schlichtweg den Atem. Es raubte mir auch den letzten Fetzen Naivität
und vor allem raubte es mir die Fähigkeit, mein Gewissen abzustellen. Bisher
konnte ich mir immer irgendwie einreden, dass „die“ trotzdem glücklich sind,
dass „die“ das selbst gar nicht so schlimm finden und dass „die“ vielleicht
eines Tages a la Slumdog Millionair doch noch die Kurve kriegen.
Wer bisher auch so dachte und wer nicht bereit
ist, sich vor dieser Wahrnehmung zu verabschieden, sollte vielleicht besser
nicht weiterlesen. Hätte ich jetzt nochmal die Wahl, ich glaube ich hätte gerne
an meinem alten, einfachen Weltbild festgehalten…
Doch stattdessen trieb mich irgendetwas an den
Ort, der jeden Versuch des Optimismus im Keim erstickte, nein, der gar nicht
erst den Boden bereitstellte, um Optimismus zu pflanzen – ich war im Ghetto.
Ich habe nun schon einige sogenannte Slums
gesehen – besonders in der letzten Zeit. Und auch obwohl dort ebenfalls große
Armut herrscht, es ist doch irgendwie nicht vergleichbar und ich kann nicht
einmal sagen warum. Ich will auch nichts beschönigen, wahrscheinlich ist es
lediglich meine ganz persönliche Wahrnehmung, doch ich fand die Stunden im
Ghetto krasser als alles andere zuvor.
Ich laufe auf großen Betonplatten zwischen den
insgesamt 18 riesigen, exakt identischen Wohnblocks hindurch. Eines der Mädchen
berichtet mir, dass die Regierung diese Blocks hat bauen lassen, jedoch ohne
irgendwie zu regeln, wer darin wohnen darf und vor allem: wer nicht.
Ich biege ab und stolpere fast über ein
Mädchen, welches am Boden liegt. Untenrum ist sie nackt. Sie ist völlig
verdreckt, hat Wunden, scheint irgendeine Art Ausschlag zu haben. Sie ist
völlig unbeweglich, Ihr Gesicht liegt in Erbrochenem, der Rest des Körpers in
flüssigem Kot.
Ich gehe weiter.
Eine Frau bittet mich in ihre Wohnung,
offenbar scheint sie sehr stolz darauf zu sein. Ich betrete einen etwa neun Quadratmeter
großen Raum, ohne Fenster. Die Wände sind, bis auf das Poster von Ganesh,
völlig kahl. Es stinkt bestialisch. Sieben Menschen schlafen hier jeden Tag,
berichtet sie. Obwohl die Wohnung nicht dreckig ist, es kommen starke Gefühle
von Ekel in mir hoch.
Ich gehe weiter.
Ich sehe eine Gruppe von Jungen, die alle etwa
14 Jahre alt sind. Sie fassen sich auffällig in den Schritt, als sie mich
sehen, rufen mir irgendetwas auf Telugu zu. Drei Jungen kommen sogar auf mich
zu und greifen fest an meinen Hintern. Ich schlage die Hände weg, sie zu
ohrfeigen schaffe ich diesmal nicht. Irgendwie habe ich Angst vor ihnen, denn
alles in ihren Augen sagt mir, dass sie nichts mehr zu verlieren haben.
Ich gehe weiter.
Eine weitere Gruppe Jugendlicher steht an
einer Hauswand und prügelt unaufhörlich auf jemanden ein, ich kann nicht mal
erkennen, ob es ein Mann oder eine Frau ist. Das Opfer wehrt sich nicht, es
gibt nicht einmal mehr Laute von sich.
Ich gehe weiter.
Gemeinsam mit den Mädchen betrete ich nun ein
weiteres Gebäude, wo auch unsere Torwächterin Nagomanie wohnt. Das gleiche Bild
wie vorher: ein stinkender, dunkler Raum. Zwei etwa 70 Jährige liegen auf dem
feuchten Betonboden und schlafen. Beim Rausgehen fällt mein Blick in die
gegenüberliegende Wohnung. Zwei kleine Kinder, vielleicht drei und fünf
kriechen auf dem Boden herum. Daneben steht ein Mann. Er hat beide Hände in
seiner Hose. Das war der widerlichste Blick den ich jemals gesehen habe.
Ich gehe weiter.
Als ich das Ghetto verlasse, drehe ich mich
noch einmal um: Das Mädchen liegt immer noch unbeweglich da.
Keine Angst, ich bin kein neuer Mensch
geworden, kann immer noch fröhlich, albern und unbeschwert sein.
Oder ist es vielleicht genau das, was einem
Angst machen sollte? Dass man unberührbar ist? Dass ich völlig kalt bin, nicht mal
mit der Wimper zucke wenn mich eine Mutter mit Baby auf dem Arm anfleht, ihr
Geld für Nahrung zu geben. Ich schaue noch nicht einmal beschämt weg oder
versuche, dieser Situation aus dem Weg
zu gehen – ich schaue ihr direkt in die Augen und sage „No.“.
Ich bin verroht.
Was mir einst mein höchstes Gut war, bröckelt
unaufhaltsam unter meinen Füßen: meine Moral. Ich beginne zu wanken, komme an
Punkte wo ich mich regelrecht dafür schäme dieses unendlich privilegierte Leben
zu haben, wo ich mich für meine Herkunft schäme, für mein Land (sofern es das
überhaupt noch ist) und für meine selbstgerechte Art. Und im nächsten Moment
rege ich mich unendlich darüber auf, dass das Internet so langsam ist.
Paradox?
Oh Mann, wie sehr sehne ich mich doch manchmal
nach den Tagen, an denen ich in Deutschland auf dem Sofa saß und auf alle
Fragen Antworten hatte.
Doch jetzt weiß ich, wer glaubt, die Welt zu
verstehen, der hat sie noch nie richtig gesehen.
Ich weiß nicht, was du machen würdest aber…
Ich gehe weiter.