Sonntag, 5. August 2012

Über Probleme, die sich nicht mit Panzerband lösen lassen


Ich habe in dem ganzen letzten Jahr versucht nicht zu meckern, mir nicht anmerken zu lassen, wenn es mir schlecht geht. Und jetzt werde ich dieses Gebot, das ich mir selbst gesetzt habe brechen. Es geht mir schlecht. Ich kann nicht schlafen, habe abends Fieber und tierische Rückenschmerzen. Ich fange an zu weinen wenn ich auf den Teller blicke, von dem ich nun ein Jahr lang gegessen habe und selbst beim Anblick der Käfer in meinem Bett überfällt mich die Wehmut wie ein warmer Sommerregen. Vom Kontakt mit meinen Mädchen ganz zu schweigen. Ich drehe am Rad, wie mein Papa sagen würde. Aber genauso wie mein Papa funktioniere ich trotzdem. Es bleibt mir ja nichts anderes übrig.


Und ich kann noch nicht mal sagen, wie ich mich gerade fühle. Ich bin traurig, dankbar, stolz und zutiefst gerührt. Seit einer Woche vergeht kein Tag an dem ich nicht mit den Mädchen gemeinsam weine. Und seit einer Woche vergeht kein Tag ohne eines meiner Lieblingsessen. Die Heimleiterin steht nachts um vier auf um mir Chapattis zu backen und die Mädchen haben extra für mich Wassermelonen im Garten angeplanzt, die sie mir dann nach Deutschland schicken wollen. Da ich außerdem gerade krank bin werde ich von meiner Sitznachbarin, der  12 jährigen Pravallika, beim Abendessen gefüttert – natürlich mit der Hand. Die einjährige Honey kann jetzt schon „Priya Sister“ sagen und Bhuvana Kruthika nennt mich seit etwa zehn Tagen „Mami“.

Angeblich geht das Leben weiter.

Ich habe heute zum ersten Mal meinen Sari angezogen. Zur extremen Freude (ich glaub ihr könnt euch das gar nicht vorstellen) der Heimbewohner. Insgesamt verbrachte ich zwei Stunden im Zimmer der Mädchen, wo mir die Haare gemacht, sämtliche Bangles angezogen wurden  und immer wieder der Sari ins rechte Licht gezuppelt wurde – ein wahrer Nervenakt für Menschen wie mich, denen es schon schwer fällt, morgens mehr als 5 Minuten im Bad zu brauchen.

Sana, mit der ich mich besonders verbunden fühle, kam  mit erhobenem Zeigefinger zu mir und sagte: „Sister, today full happy, ok?!“ Ich nickte und die Zehnjährige wusste sofort, was das zu bedeuten hatte.


Dann war es soweit. Rückblickend kann ich gar nicht mehr genau beschreiben wie sich alles ereignet hat, weil alles irgendwie im Rausch passierte. Plötzlich saß ich auf dem Stuhl neben meiner Chefin Sumitra. Vor uns saßen die Mädchen. So langsam wurde mir bewusst, dass das hier gerade so etwas wie meine Abschiedsfeier ist. Die ersten Tränen fließen. Einige Mädchen stehen auf und bedanken sich bei mir, halten kurze Reden und auch obwohl das alles sehr anrührend ist, so wissen alle in dem Raum, dass keine Rede vermag das auszudrücken was wir fühlen.

Dann werde ich aufgefordert etwas zu sagen und ich verliere völlig die Kontrolle. Es war kein Weinen mehr, sondern richtig furchtbares Heulen. Mit lautem Schluchzen und so.  Und ich weiß nicht wie ich es schaffte, aber nach einer guten Minute des Kontrollverlustes gelang es mir, mich zusammen zu reißen. Ich hielt eine Abschiedsrede.

Ich weiß nicht ob sie gut war, aber sie war ehrlich.

Ich sagte, dass ich die schönste und die härteste Zeit mit ihnen hatte, dass ich ihnen unendlich dankbar bin. Ich sagte, dass sie alle so viel Potential haben und dass sie nie aufhören dürfen nach mehr zu streben als dem Mittelmaß, weil es das ist was sie verdient haben: die Erfüllung ihrer Träume.

Ich sah nicht ein Kind in den Reihen, das nicht weinte.

Das nächste an das ich mich erinnern kann sind mit Konfetti gefüllte, platzende Ballons über meinem Kopf. Ich bekam Blumen ins Haar gesteckt und eine Kette mit passenden Ohrringen und Armband.

Sumitra wollte, dass ich gleich heute mit zu ihr fahre und die letzten beiden Nächte dort verbringe. Ich weigerte mich. Ich bleibe bis zum Ende hier, sagte ich. Nachdem sie endlich weggefahren war drückte mir die Heimleiterin ein Gästebuch in die Hand. In dieses Gästebuch schreiben Besucher in kurzen Sätzen wie sie das Heim und die Kinder fanden. Menschen, die im Schnitt eine knappe Stunde hier verbracht haben. Und nun sollte ich etwas hineinschreiben.

Nach zehn Minuten in denen ich ratlos mit Kuli in der Hand vor dem Buch saß wusste ich plätzlich ganz genau, was zu tun ist. Neben all die „Thanks for the nice dance!“-, „You girls are soooo great!”- und “This is a beautiful Home”-Sätze, schrieb ich das Einzige, was der Situation angemessen ist:

Thank you for changing my life forever. I will never stop thinking of you.


Freitag, 3. August 2012

Jetzt ist es passiert


„Wenn sich eine Tür schließt, öffnet sich eine andere“

Jetzt ist es passiert. Zwar ist die Tür noch nicht ins Schloss gefallen, aber der Schlitz zwischen Tür und Rahmen ist so winzig, dass ich gerade noch so mit einem halben Auge durchblicken kann. Folglich ist die Sicht auf meine momentane Situation ziemlich beschränkt.

Was ich sehe sind Kinder, für die ich eine Freundin bin, für die ich die große Schwester bin, die Lehrerin, das große Vorbild oder auch die Mutter.  Und ich werde all das zurücklassen. Mit einem Mal. Einfach so.

Und ich werde nie erfahren, was aus all den Menschen geworden ist, die für ein Jahr meine Familie waren.

Jetzt ist es passiert. Ich realisiere es. Natürlich genau in dem Moment als meine Chefin neben mir sitzt. Scheiß Timing.

Ich fühle mich zurückversetzt, bin jetzt wieder wie zuvor, klein und schwach und hilfesuchend. Es ist wie vor einem Jahr nur viel schlimmer. Denn dieses Mal ist es ein Abschied für die Ewigkeit. Selbst wenn ich irgendwann zurückkommen sollte, es wird nichts so sein wie es jetzt ist. Dazu kommt, dass meine Mädchen selbst unheimlich traurig sind. Sie weinen um mich, ich um sie und trotzdem bin ich die Große: Diesmal werde ich nicht getröstet, diesmal tröste ich selbst.

Jetzt ist es passiert. Ich fange an meinen Koffer zu packen. Ich kaufe für fast 80 Mädchen Abschiedsgeschenke und organisiere meine Fahrt zum Flughafen.
Wenn ich jetzt hier so sitze spüre ich zwar tiefen Schmerz, aber gleichzeitig auch unendliche Dankbarkeit. Dieser Ort hier, dieses Heim, dieses Dorf, dieses Land und allem voran diese Menschen haben mir so viel beigebracht. Ich habe so viel über mich selbst gelernt, mich so entwickelt, so viele außergewöhnliche Erfahrungen gemacht, bin so oft an meine Grenzen gekommen und habe sie überwunden,  dass ich voller Stolz und Dankbarkeit an diese Zeit zurückdenken werde.

„Wenn sich eine Tür schließt, steht eine andere bereits offen.“

Jetzt ist es passiert.

Alles was ich jetzt noch tun muss ist die Mädchen zu küssen, meinen Koffer zu nehmen und durch die Tür zu gehen.


Und bis dahin halte ich den Atem an.