Samstag, 24. Dezember 2011

Stille Nacht, heilige Nacht


Ich sitze in meinem neuen schwarzen Kleid auf dem Dach. Über mir ist der schönste Sternenhimmel, den ich je sehen durfte. Mir ist kalt. Ich könnte jetzt aufstehen, runter gehen und mir eine Jacke holen.  Aber ich will frieren, nein, ich muss jetzt frieren.
Tränen laufen über meine Wangen. Ich müsste jetzt nicht weinen, ich könnte es aufhalten, mir geht es nicht schlecht, ich brauche kein Ventil, fühle mich nicht einmal einsam. Doch ich will jetzt gerade weinen. Vielleicht aus Entsetzen darüber, dass es mir gut geht.

Ich höre meine Wiedergabeliste mit dem Titel „Kummer“ und greife immer wieder in die Dose mit den Weihnachtsplätzchen. Ameisen  krabbeln über die Krümel. Nein, ich beseitige sie nicht, einzig und allein deshalb, weil sie Teil der unglaublichen Absurdität dieses Momentes sind.

Es ist ganz ruhig in mir. Ich singe drei Strophen von „Stille Nacht“, während ich höre, dass eines der Kinder unten bitterlich weint. Ich frage mich, ob mir diese Nacht heute heilig ist und auch wenn ich verzweifelte nach Argumenten suche, die diese Frage bejahen, so bin ich mir nicht sicher, ob sie ausreichen, um mich vollends davon zu überzeugen.

Ich rechne viereinhalb Stunden zurück, schließe die Augen und sehe mich, wie ich vorm Spiegel stehe, mich schminke, die Haare kämme, Mütze, Schal und Handschuhe anziehe, mein Horn nehme und zur Kirche gehe.

Ein Flugzeug. Ob ich gerne darin säße? Nein.

Ich finde einen Zettel in meiner Tasche. „Happy Christmas Priya-Sister! I love you.“

Und plötzlich singt Jack White mit seiner unglaublich unnahbaren Art „I´m lonely, but I ain’t that lonely now“. Wie automatisch stelle ich den Laptop weg und lege mich hin. Dieser Augenblick ist viel zu wertvoll, um ihn mit dem Schreiben eines völlig gehaltlosen Blogeintrags zu zerstören.


Ich sehe eine Sternschnuppe und jetzt weiß ich: Diese Nacht ist heilig.





Frohe Weihnachten!

Donnerstag, 22. Dezember 2011

Aus dem Leben eines A-Promis*


„AAAAAAAAAHHHHHHHHHHHHHHH!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!“

(dieser Ausruf ist mindestens 2 Oktaven höher, als du ihn dir gerade vorgestellt hast)

„HIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHIHI“

(dieses Kichern wird von mindestens 10 Frauen mehr ausgestoßen, als du gerade gedacht hast)

„HAHAHA!“

(dieses Lachen….nein, Stopp, das sind jetzt lediglich Alma und ich)


Ein bisschen peinlich berührt, irgendwie auch sehr geschmeichelt, laufen wir unseren (mittlerweile täglichen!) Gang zum Kiosk in Bogaram. Wer ist eigentlich dieser Justin Bieber? Wer kam eigentlich auf die Idee, man würde von zu viel Ruhm irgendwann abheben? Wer glaubt eigentlich an das Gerücht, man müsse irgendwas Besonderes leisten um berühmt zu werden? Wer hat eigentlich bestimmt, dass der Walk of Fame in Hollywood und nicht in Bogaram ist?

Die Antwort ist bei allen Fragen dieselbe: ein Idiot. Oder zumindest ein Weltfremder, den es noch nie in das allseits berüchtigte Bogaram verschlagen hat. Ein Idealist, der einfach noch nie dabei war, als Alma und ich das Heim verlassen haben und wir jubelnd, schreiend und quietschend empfangen wurden.

Wäre die Straße zum Kiosk nicht nur von Müll, Tierkadavern und Schlaglöchern übersäht, sondern stattdessen mit Häusern bebaut, in denen Menschen wohnen, die eventuell noch Fotoapparate hätten, so käme unser täglicher Spaziergang der Hochzeits-Kutsch-Fahrt von Kate und William gleich. Frauen stehen auf der Ladefläche eines an uns vorbeifahrenden Autos und winken schüchtern. Sobald wir ihnen eines unserer Hollywood-Zahnpasta-Lächeln schenken (im Vergleich zu indischen Zähnen hat JEDER dieses Lächeln!), und dabei gegebenenfalls noch zuwinken, sodass selbst die Queen neidisch wäre (als würde man sanft ein Honigglas aufschrauben, das auf dem Kopf steht…), flippt die Damenwelt nur so aus (die Männer natürlich auch, aber die signalisieren es eben anders…irgendwie…NOCH primitiver…)!

Und diese Reaktionen erfahren wir überall, wo wir auftauchen. Ich denke zurück an den Tag als wir im Zoo waren wo wir für viele Besucher die größte Attraktion (kommt in diesem Fall ganz sicher von „attraktiv“!) darstellten und somit Safari und Zugfahrt in den Schatten stellten. An einem einzigen Tag wurden gefühlte 200 Fotos von uns geschossen, in denen wir abwechselnd mit Kindern, Vater, Mutter oder allen zusammen posieren.

Irgendwann, als wir für mehrere Familien hintereinander Fotos fürs Familienalbum schossen, sagte Alma: „Egal, was jetzt passiert, wir rennen einfach los!“
Und das taten wir dann auch und ignorierten die „Please, madame!“-Rufe.

Die gleiche Szene, immer wieder. Und es ist immer wieder ein Spagat zwischen Scham und Ehre. Und während ich so weitergehe auf dem Weg zum Kiosk und darüber nachdenke, dass ich nicht sonderlich gelenkig bin und daher eigentlich überhaupt keinen Spagat machen kann und mich frage, ob das dann bedeutet, dass ich mich in solchen Spagat-Geschichten für eine Seite entscheiden muss oder ob meine Sportlichkeit doch in keinem Zusammenhang mit der Frage steht, welches Gefühl bei mir überwiegt und wer weiß, vielleicht kann ich das ja auch gar nicht steuern und lenken, vielleicht werde ICH davon gelenkt, meine ganze Gedankenwelt, quasi völlig manipuliert von meinen Gefühlen und meiner Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen, aber jetzt muss ich echt aufpassen und mich zusammenreißen, damit ich mich nicht wieder völlig in gehaltlosen Gedankenfetzen verfranse, sonst……..und als ich gerade beschließe Spagat zu lernen, merke ich, dass ich auf weichem Untergrund stehe.

„HÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄÄ????“

(dieser Begriff des Unverständnisses ist viel entsetzter, als du gerade gedacht hast)

„SCHEIßE!!!!!!!!!!!!!!!!!!!“

(dieser Ausdruck bedeutet zwar nicht, dass ich in Kot stehe, ist jedoch trotzdem mindestens so entsetzt wie der zuvor genannte!)

Schnell drehe ich mich zu Alma um, in der Hoffnung, dass sie mir nicht gefolgt war – vergeblich. Sie blickt ebenfalls fragend auf den Boden.

„Scheiße, Alma, wir stehen gerade im frischen Beton.“

Zur vollen Blamage hätte jetzt nur noch ein Spagat gefehlt – wie gut, dass ich den noch nicht geübt hab!

Und da ich schon immer für meine sachliche präzise Situations-Analyse bekannt war, da ich ein logisch strukturierter Mensch bin, dessen Hirn effizienzgeleitet sofort den eigenen Fehler diagnostizieren kann und dann sofort nach Lösungen sucht, den Schaden möglichst gering zu halten, gehe ich nicht die zwei Schritte weiter, um dann wieder auf festem Boden zu stehen, sondern stattdessen die fünf Schritte zurück durch die klebrige Pampe.

Unter den interessierten Blicken etlicher Menschen legen wir unseren „Hä? War irgendwas?“-Blick auf (der auf einer Stufe mit dem Zahnpasta-Lächeln und dem Queen-Winken steht) – natürlich absolut glaubwürdig, nicht nur, weil es mal locker 20 Zeugen gibt, sondern zudem noch unsere Fußspuren in den Boden eingestanzt sind und wir noch frischen Beton unter den Sohlen kleben haben.

Wie war das doch gleich? In Bogaram gibt’s keinen Walk of Fame? Pah, von wegen!
Dass Justin Bieber noch nicht in Bogaram war, ist jetzt auch kein Wunder mehr (schließlich würde der vor Neid erblassen!).
Dass man nichts Besonderes leisten muss, um berühmt zu werden, hätten wir jetzt somit auch widerlegt (das soll uns erst mal jemand nachmachen!).

Nur das mit dem Abheben bei zu viel Ruhm kann ich nicht bestätigen:
Schließlich kann ich in meiner Position mit gutem Gewissen und voller Berechtigung erwarten, standesgemäß vom Pöbel empfangen zu werden!


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*  Parallelen zu „Aus dem Leben eines Taugenichts“ sind hier rein zufällig

Montag, 12. Dezember 2011

Von hinten bis vorne


Heute, 12:23 Uhr:


Durga Bhavani verzieht das Gesicht. Angewidert. Die Mundwinkel hängen dabei fast tiefer als das Kinn lang ist. Sie stöhnt genervt auf, greift dann zielsicher auf das runde Stück Metall, nimmt eine bunte, zusammenklebende Masse in die Hand und schiebt diese rüber zu Ashwini, die sich gerade angeregt mit Lalitha unterhält und dabei wild gestikuliert. Um ein Haar schlägt sie Durga Bhavani das Stück aus der Hand als sie nach oben zeigt. Das macht Ashwini stutzig. Sie blickt nach unten und  sofort macht sich Entsetzen in ihr breit. Alles an ihrem Körper wehrt sich dagegen, dieses Geschenk anzunehmen. Auch Lalitha hat die Lage erkannt und will ihrer besten Freundin in diesem schwierigen Moment beistehen. Von tiefer innerer Verbundenheit geleitet wagt sie sich, das Stück nun auch in die Hand zu nehmen, um Ashwini von ihrer Qual zu erlösen. Innerhalb von Sekundenbruchteilen wird das Stück nun zu Laxmi befördert. Verdammt was nun? Alle Tricks, das harte Los irgendwie abzuwehren, sei es durch schnelle Reaktionen mit den Händen oder die Solidarität der besten Freundin, scheinen aussichtslos.

Oder etwa nicht?

 Tränen steigen in Laxmis Augen. Das Mädchen mit der höchsten Stimme fängt an, herzzerreißend zu weinen. Das ist kein Weinen, das ertönt, wenn ein Kind hingefallen ist und sich verletzt hat, nicht so als hätte man ihm sein Lieblings-Spielzeug weggenommen. Nein, das Weinen, das aus Laxmis Kehle erklingt, durchfährt Mark und Bein, denn es ist ein Weinen, als hätte ihre Mutter vergessen, sie aus dem Kindergarten abzuholen. „Chinnar-Akka!!!“, brüllt sie los. Diese stürmt herbei um ihrer kleinen Schwester zu helfen. Als hätte sie bereits geahnt, was sie erwartet, springt Anusha hektisch auf, klettert auf die Arbeitsplatte und hält ihre Metallschüssel so hoch wie sie nur kann. Doch es hilft nichts. Chinnari hält das bunte Etwas längst in ihren Händen, erklimmt ebenfalls die Arbeitsplatte und schmeißt es mit aller Wucht in Anushas Schüssel. In diesem Moment betritt Sana die Küche und Anusha erkennt, dass dies ihre Gunst der Stunde ist, denn jene hatte schon längst alles zurechtgestellt, war aber noch etwa 5 Meter davon entfernt. Jetzt oder nie! Sie greift nach dem klebrigen Stück und schiebt es Sana unter, die von dieser Aktion nichts mitbekommen zu haben schien. Aufatmen auf allen Seiten.

„Chiiiiii!!!!“, quietscht Sana, als sie erblickt, was vor ihr liegt.
Ein langer Monolog beginnt, indem immer wieder Ausdrücke des Ekels und das Wort „sister“ vorkommen. Ein Lächeln huscht mir über die Lippen. Ich muss kichern. Jyoshna sieht schockiert zu mir auf und realisiert, dass ich seit 2 Minuten unbemerkt im Türrahmen stand und die ganze Szene beobachtet hatte. „Siiiiiiiister!!!“
Schimpfen, Schläge auf den Hinterkopf der Mädchen und aggressives Gestikulieren sind die Folgen meiner Erscheinung.

„So nice, sister!“, sagen schließlich alle im Chor und grinsen mich dabei an.



Gestern, 20:26 Uhr:


Mit noch leicht nassen Haaren und sehr trockenem Humor sitze ich auf dem Boden, blicke von einem Mädchen zum anderen und muss lachen. Der Anblick der sich mir bietet sagt alles, obwohl um mich herum völlige Stille herrscht. Zwischen den Blickwechseln der Mädchen, stehen keine Sätze sondern ganze Romane, die solche Überschriften wie „Als ich das Wasser trinken musste, indem meine Großmutter ihr Gebiss gewaschen hat“, „Wie ich die Haltegriffe der Berliner U-Bahn ableckte“, oder „Nacktbaden im New Yorker Abwasser“, tragen könnten. Unbeeindruckt führe ich meine rechte Hand zum Mund. Wäre das schweigsame Spektakel um mich herum nur halb so interessant, ich würde vor Genuss die Augen schließen. Ich blicke rüber zu Alma und wir beschließen, aufzustehen und zu gehen, die Situation dem Schicksal zu überlassen, oder einfach dem menschlichen Instinkt. Wir gehen durch die Tür nach draußen. „So nice, sister!“, ertönt es gleich aus mehreren Hälsen. Ich lache.



Gestern, 18: 17 Uhr:


Frisch geduscht und voller Elan greife ich nach dem Messer und beginne die Tat, die mich noch etwa zwei Stunden lang beschäftigen sollte. Viele Gedanken hatten wir uns gemacht, zumindest was Menge und Art betraf. Nun bin ich fest davon überzeugt, dass es ein Erfolg wird. Alles andere würde die Zerstörung meines Weltbildes bedeuten, oder zumindest einem starken Rütteln daran gleichkommen. Die Musik im Hintergrund macht die Arbeit erträglich. Ständig versuchen Mädchen, zu erspähen, was sie erwartet, doch die Türen sind verschlossen und der Schutzwall errichtet.
„Und??“, frage ich Alma erwartungsvoll. Sie nickt zufrieden und entgegnet „Also ich finds gut!“
Es klopft an der Tür. Ich öffne sie und erblicke Nagomanie, die höflich um Einlass bittet, um etwas zu trinken. Sie kommt rein, zeigt auf den Boden und sagt: „So nice, sister!“
Diese Bestätigung hätte ich nicht mehr gebraucht, denke ich mir.



Donnerstag, 10:53 Uhr:


„Also ich hätte mir 10 kg irgendwie schwerer vorgestellt!“, sagt Alma, die den Sack auf dem Rücken trägt. Ich laufe neben ihr, halte zwei prall gefüllte Taschen in den Händen und stöhne auf. Es ist zu warm und zu beschwerlich, diese elende Schlepperei.



Vor etwa 2 Wochen:


„Also machen wir jetzt Nudeln mit Tomatensoße??“, frage ich und bekomme eine bestätigende Antwort.



Heute, 14: 49:


Ja, so war das gestern. Wir wollten den Mädchen einen Einblick in die deutsche Kultur bieten und wo lernt man eine Kultur besser und schneller kennen als beim Essen? Also beschlossen wir, aus den geringen Möglichkeiten, hier was typisch Deutsches zu kochen, das Beste zu machen. Wir besorgten 10 Kilo Nudeln und 5 Kilo Tomaten, Zwiebeln und Knoblauch. Und, da uns die Tomatensoße zu teuer war, noch 4 Liter Ketchup. Wir zauberten ein wirklich leckeres Gericht, auch wenn das kaum vorstellbar ist, angesichts der Alternative für die Tomatensoße (allerdings haben wir dafür immerhin bunte Nudeln gekauft!).
Es war eine Katastrophe. Niemandem hat unser Essen geschmeckt (von Alma und mir selbst mal abgesehen)! Aus „Wann gibt’s endlich Essen, ich hab totalen Hunger?!“ wurde „Nee, lieber nicht so viel, ich bin heute nicht so hungrig!“, und aus meiner Ankündigung „Wir machen echtes deutsches Essen für euch!“ wurde ein rechtfertigendes „Naja, das ist eigentlich kein deutsches, sondern italienisches Essen…“.

Heute sollten dann die Reste gegessen werden, was unter elender Qual, unter Tränen und Schlägen dann auch widerwillig geschah.

Auch wenn die Geschichte keine Moral hat und ich nicht weiß, ob und was wir falsch gemacht haben, so bleibt mir doch ein Satz immer im Ohr: „So nice, sister!“

„Ja, ich weiß!“, denke ich mir jetzt und lächle zufrieden.